Zwischen Schmerz und Begehren: Semiha Berksoy, der Kunst- und Operndiva und ersten „Staatskünstlerin“ in der Türkei, die 2004 mit 94 Jahren verstarb, gilt eine Retrospektive im Hamburger Bahnhof in Berlin

„Ich bin ein Gesamtkunstwerk, eine Synthese aus allen Kunstformen“. So ungebrochen, wie Semiha Berksoy 2003 den Kurator Hans Ulrich Obrist in einem Gespräch beschied, würde sich heute kaum ein:e Künstler:in mehr mit einer Formel beschreiben, die nach Genieästhetik und Selbstüberschätzung riecht.

Doch die türkische Operndiva, die 1998 als erste Frau ihrer Heimat mit dem Titel „Staatskünstlerin“ ausgezeichnet wurde, war kein Mensch von übertriebener Bescheidenheit. „Ich war schon immer ein Star“ hämmerte sie ein Jahr vor ihrem Tod 2004 ihrem illustren Gesprächspartner ein.

Misst man das Werk der Ausnahmekünstlerin an der „Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität“, die der Philosoph Odo Marquard als Kriterium für Richard Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk aufstellte, kam sie der Idee jedoch ziemlich nahe.

Nachvollziehen lässt sich das in der großen Retrospektive in Berlins Hamburger Bahnhof. Zum ersten Mal breiten die Kuratoren Sam Bardouil und Till Fellrath, die Direktoren des Hauses, in diesem Umfang das Werk einer Grenzgängerin zwischen Musik und Bildender Kunst und einer solitären Pionierin weiblichen Kunstschaffens aus.

In der Türkei genießt die Diva Kultstatus wie sonst nur die Popdiva Sezen Aksu oder der schwule Schlagerstar Zeki Müren. In Scharen pilgerte die Istanbuler Kunstszene zur Eröffnung an die Spree und huldigte der Ikone mit Instagram-Kaskaden.

Aufgewachsen in einem multikulturellen Umfeld, ihr Vater war der Dichter Ziya Cenap Bey, die Mutter Fatma Saime Hanım Malerin, standen die Sterne günstig für den Weg der 1910 in Istanbuls Stadtteil Çengelköy geborenen Semiha in die Kunst. Schon im Kindergarten soll sich das junge Mädchen als Opernsängerin versucht haben.

Nach dem Studium der Malerei und Keramik trat es im Istanbuler Stadttheater in einer Gogol-Inszenierung auf. Muhsin Ertuğrul, sein Leiter, war von der Debütantin so begeistert, dass er sie 1931 in „Die Straßen von Istanbul“, dem ersten Tonfilm der Türkei, auftreten ließ.

Auf sie aufmerksam geworden, schien die lebhafte, selbstbewusste junge Dame dem Staatsgründer und Kulturrevolutionär Atatürk prädestiniert als Protagonistin seiner Idee einer modernen türkischen Frau wie des Konzepts, die türkische Kultur europäisch auszurichten.

1934 spielte sie beim Staatsbesuch des Schahs von Persien in Ankara die Hauptrolle in der ersten, von Atatürk in Auftrag gegebenen türkischen Oper „Özsoy“ die Hauptrolle.

Mit einem Staatsstipendium durfte sie später an der Musikhochschule Berlin studieren und schloss dort 1939 ihr Studium ab. Obwohl sie nur ein paar Jahre blieb, war die Stadt prägend für Berksoy.

Es erinnert beklemmend an die xenophobe Stimmung heute in Deutschland, wenn man in den Archivstücken der Schau liest, wie die Hitlerjugend damals gegen die erste türkische Primadonna in einer Aufführung in Europa Front machte. Diese Pionierrolle setzte sie zwei Jahre später mit ihrer Rolle in „Tosca“, der ersten Opernproduktion der Türkei, fort.

„Singing in Full Colors“ – mit dem Titel der Schau spielen die Kuratoren auf Berksoys Multitalent als Sängerin, Performerin und Malerin an. Mit acht monumentalen Kulissen, auf denen sich die Diva in den Hauptrollen von Opern wie „Ariadne auf Naxos“, „Salome“ und „Tosca“ darstellte, verwandeln sie den Museumsraum zu der Bühne, auf der Berksoy ihre Opern wie ihr Leben aufführte.

Was diese Arbeiten mit den, parallel zu dem szenischen Parcours gehängten Werken aus ihrer Zeit als Malerin ab 1972 verbindet, als sie als Sängerin in Rente ging, ist der naive, hochexpressive, emotionale Stil.

Ihr mit rotem Bleistift gestricheltes Selbstporträt von 1928 war noch realistisch-kokett wie für ein Modemagazin. In dem „Nude“ betitelten aus dem Jahr 1996 wird sie zu einer kubistischen Fratze, in seiner groben Abstraktion, nahe an Graffiti und Comic.

Berksoy lebte ein Leben im Austausch mit den Seelen ihrer Lieb(schaft)en, unter ihnen auch der kommunistische Dichter Nazim Hikmet. Regelmäßig besuchte sie ihn im Gefängnis besuchte und porträtierte ihn obsessiv.

Gleich zu Beginn empfängt die Besucher das Bild „My Mother the Painter Fatma Saime“ von 1965, das diesen Sommer auch in Adriano Pedrosas „Outsider“-Biennale in Venedig prangte. Der Tod der Mutter 1918 prägte die achtjährige Semiha nachhaltig und sorgte für den Grundton zwischen Schmerz und Begehren in ihren Werken.

Fand die türkische Gegenwartskunst in derselben Zeit zu einem gesellschaftskritischen Mixed-Media-Konzeptualismus, blieb Berksoy ihrer auf das Individuum und den Körper konzentrierten Malerei treu, irgendwo zwischen Abstraktem Expressionismus und Art Brut: eine in grotesken Formen wie Magma aus dem Inneren hervorsprudelnde Emotion.

Mit den Worten: „Es gibt etwas, das meine Seele antreibt, etwas, das in mir zu einer brennenden Leidenschaft wird, und das ist die Liebe zur Kunst“, hatte sie ihrem Vater einst ihren Berufswunsch begründet.

Die privaten (Liebes-)Bindungen waren die wichtigsten Inspirationsquellen der Künstlerin. Sie hielt sie durch ihre Bilder am Leben und verdichtete sie in ihrem Werk zu einer Vorform der „Individuellen Mythologien“, denen der Kurator Harald Szeemann 1972 seine documenta 5 widmete.

Wieder bot Berlin dann das Podium für ihre zweite Karriere. 1969, 30 Jahre nach ihrem ersten Opernerfolg, hatte sie ihre erste Einzelausstellung im Haus am Lützowplatz. Dem Kritiker der „Welt“ fiel damals ihre „ausdrucksstarke Melancholie“ auf: „Autobiographisches geht bruchlos in Mythisches über“

Zum Sinnbild dieses Ineinsfalls von Leben und Kunst wurde ihr mit Kunst und Erinnerungsstücken vollgestopftes Istanbuler Schlafzimmer, ihr ganz persönliches Kunstuniversum. Die Kuratorin Rosa Martinez verfrachtete es 2005 zur Gänze auf ihre „Always a little further“-Biennale nach Venedig.

Aktuell ist Berksoys Werk nicht nur wegen des Beispiels einer selbstbestimmten, keinen Exzess scheuenden Künstlerin, deren Leben und Werk sich aus den, von den derzeitigen Machthabern am Bosporus verdrängten, emanzipatorischen Ursprüngen der Türkischen Republik speist, die im vergangenen Jahr ihr 100. Jubiläum feierte.

Ihr Oeuvre ist auch verblüffend anschlussfähig an das Dramatische, Performative, Queere und Transgressive der Gegenwartskunst heute und deren Suche nach genresprengender Interdisziplinarität.

Es ist genau diese Faszination, die Kutluğ Atamans Film „semiha b. unplugged“ treibt. In dem siebeneinhalbstündigen Video von 1997 lässt der schwule Regisseur die grell geschminkte, extravagant gekleidete, lasziv sich windende Berksoy, damals 87 Jahre alt, in ihrem Schlafzimmer ihr Leben re-enacten. „Alles, was ich mache ist Kunst“, hatte sie Hans Ulrich Obrist in sein Interview diktiert.

Zwei Jahre später kehrte die 89-jährige für Robert Wilsons Inszenierung „The Days Before Death, Destruction and Detroit III“ im New Yorker Lincoln Center in einem grotesken Zirkuskleid auf die Bühne zurück und sang mit schnarrender Stimme Isoldes „Liebestod“. Fünf Jahre später stirbt sie in Istanbul nach einer Herzoperation.

Wenn Regisseur Ataman erklärt, dass ihn „die Präsentation selbst interessiert und nicht das, was sie präsentiert“, meint er das unkontrollierbare Entstehen des Gesamtkunstwerks eines revolutionären Geistes. Er balancierte auf der Schwelle zwischen Leben und Tod.

 Semiha Berksoy: Singing In Full Color. Hamburger Bahnhof. Noch bis zum 11. Mai 2025. Katalog, Silvana Editoriale, 20 Euro

Es gibt kein Paradies: Mit seinem neuen Roman „Die Rose von Nischapur“ beweist der iranische Schriftsteller Amir Hassan Cheheltan erneut sein Können

Der überraschende Besuch eines Fremden, der eine festgefügte Ordnung gehörig durcheinanderbringt. Das „Teorema“-Motiv aus Pier Pasolinis bekanntem Film ist unübersehbar in Amir Hassan Cheheltans neuem Roman „Die Rose von Nischapur“.

Zufällig auf ein Werk Omar Khayyams gestoßen, verliebt sich der junge Engländer David in die unsterblichen Verse des persischen Dichters, Mathematikers und Philosophen, der im 11. Jahrhundert lebte. Neugierig auf dessen Heimat geworden, reist er 2015 nach Teheran.

In der iranischen Hauptstadt steigt er erst in einem Hotel ab, wegen eines Unfalls zieht er zu einem befreundeten Paar: Nader, einem Dichter, den er in London bei einer Lesung kennengelernt hat und dessen Lebensgefährtin Nastaran, einer Grafikdesignerin.

Der Titel des Romans belegt den Sinn des Autors für beziehungsreiche Symboli: Nastaran ist ein iranisches Wort für „Rose“. Nischapur ist der Geburts- und Sterbeort Omar Khayyams.

Verliebt in Omar Khayyam

Zunächst drehen sich die Gespräche der drei um Alltagsdinge, Omar Khayyam, die Orientalistik und die iranische Geistesgeschichte. Die ungewohnte Dreieckskonstellation unterbricht jedoch Naders und Nastarans Beziehungsroutine.

Sie beginnen, sich selbst, ihr Leben und ihre Rolle in der Beziehung zu reflektieren. Naders Freundin will Kinder, er ist gegen die bürgerliche Ehe. Durch die Gegenwart des attraktiven David euphorisiert, bricht sich Naders, in der „Dunkelkammer der Verleugnung und des Vergessens eingesperrtes Gefühl seinen Weg ins Freie“.

Amir Hassan Cheheltan gilt ja als Chronist der Widersprüche der iranischen Gesellschaft seit der Islamischen Revolution von 1979. Doch sein neuer Roman lebt eher von einer ziemlich intimen Konstellation: dem Leben von Nader und Nastaran und der Dreieckskonstellation, die sich ergibt, als David dazu stößt.

Der Roman ist nicht so klar politisch, wie etwa Cheheltans Roman „Amerikaner töten in Teheran“ von 2011, wo explizit die politischen Umbrüche vor und nach Khomeinis Revolution im Mittelpunkt stehen. Zeitgesichte kommt mehr am Rande ins Blickfeld

Die drei unterhalten sich über die Fälle von verhafteten Ausländern, die der iranische Staat als politische Geiseln benutzt. Nader erinnert sich in einer Rückblende an seinen Vater, der sich beim Ausbruch der Revolution 1979 selbst erschoß.

Sie unterhalten sich über die Repression im Alltag, das Verbot von Alkohol, Cheheltan webst das unterschwellig in die Handlung ein – Politik ist eher so ein mittelbarer Effekt.

Nur mit der Variation des bekannten (Teorema-)Motivs gibt sich ein Autor wie der 1965 geborene Amir Hassan Cheheltan, gelernter Elektromechaniker, der mit seinem 2009 in Deutschland erschienenen Roman „Teheran, Revolutionsstraße“ großes Aufsehen erregte, natürlich nicht zufrieden.

Meisterhaft verknüpft der Autor in seinem Werk eine intime Beziehungsgeschichte mit subtilen Charakteren mit Literaturgeschichte und einem Sittenporträt des islamistischen Iran und seinen Zwängen – dem allgegenwärtigen Staatsterror, den Mängeln des Alltags und dem Druck der sozialen Konventionen.

Die Exkurse zu Omar Khayyam, die sich in Gesprächen zwischen den dreien und Bekannten entwickeln, sind manchmal etwas lang geraten.

Kontrastieren den repressiven Alltag aber scharf mit einer hedonistischen Lebensphilosophie, die den göttlichen Willen ablehnte und die Menschen aufforderte, für den Moment zu leben.

Zugleich legen sie den tabuisierten homosexuellen Subtext der iranischen und muslimischen Kultur, den viele der „gegen den Strom schwimmende persischsprachigen Dichter und Denker“ thematisierten, frei. Ein Motiv, das sich durch viele Bücher Cheheltans zieht.

Die Kraft des Hedonismus

Alles Gründe, warum das Werk dieses außergewöhnlichen Autors, der auch in vielen Essays die Zustände in seiner Heimat in ätzender Schärfe analysiert, dort nicht mehr erscheinen darf.

Der Roman bezieht seine besondere Spannung daraus, dass ein auktorialer Erzähler kühl und ungerührt die sich langsam aufbauende Spannung zwischen allen Beteiligten notiert, die schließlich dramatisch, tragisch, thrillerartig kulminiert. In der Übersetzung von Jutta Himmelreich verliert sich nichts von dieser ständig spürbaren Spannung.

Omar Khayyams Prophezeiung: „Bringt Euch nicht in Lebensgefahr. Es gibt kein Paradies“ findet darin eine tragische Erfüllung.

Amir Hassan Cheheltan: Die Rose von Nischapur. Roman. Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich. C.H.Beck, München 2024, 240 Seiten, 24 Euro

https://www.deutschlandfunkkultur.de/buchkritik-die-rose-von-nischapur-von-amir-hassan-cheheltan-dlf-kultur-e369f7de-100.html

Pioniertat: Im Athener Museum für Zeitgenössische Kunst fragt Katerina Gregos nach der Macht der Frauen: „What if women ruled the world“

Dimensionen der Sichtbarkeit. Christina Dimitriadis: Private Spaces – Berlin/Studio, 1995, Farbfotografie. Foto: Christina Dimitriadis + VG Bild-kunst

300 Tote, Plünderungen, ausgebrannte Museen. Als Sheik Hasina 1996 zum ersten Mal Premierministerin Bangladeshs wurde, zog die aus dem Exil heimgekehrte Tochter des Staatsgründers Mujibur Rahman große Hoffnungen auf sich.

Als sie vor wenigen Wochen das Land nach einem Aufstand per Helikopter aus ihrer Heimat flüchtete, hinterließ sie ein Chaos, 2000 politische Gefangene inklusive. Die hatte die von einer Progressiven zur Autokratin mutierte Politikerin einsperren lassen.

„What if Women Ruled The World?“ – mit Blick auf das blutige Drama in dem südasiatischen Land ist die hypothetische Frage, die das Athener Museum für Gegenwartskunst (EMST) in seiner jüngsten Großausstellung stellt, im Grunde beantwortet: Vermutlich wäre es dann auch nicht viel besser.

Die Ausstellung mit dem plakativen Motto verrät die Handschrift ihrer Kuratorin. Themenausstellungen, die in das Herz der zeitgenössischen Konflikte zielen, ebneten der 1967 in Athen geborenen Kuratorin Katerina Gregos den Weg an die Spitze des von einer Brauerei zum Museum umgebauten Hauses. 2017 geriet es als Zweit-Standort von Adam Szymczyks documenta 14 in den Fokus der Welt(kunst-)öffentlichkeit

Unter dem Titel „newtopia. The State Of Human Rights“ erklärte Gregos die Menschenrechte 2012 im belgischen Mechelen zur letzten globalen Utopie. Zwei Jahre später prangerte sie im Brüsseler Bozar mit „No Country for Young Men“ die Folgen der griechischen Finanzkrise an.

„The State Is Not A Work Of Art“ hieß 2018 im estnischen Tallin eine Schau, die den europäischen Neonationalismus auf Korn nahm. 2021 ernannte ausgerechnet die konservative griechische Kulturministerin Lina Mendoni die ultraprogressive Kunsthistorikerin (nach der Amtszeit der ersten Direktorin Anna Kafetsi in der Zeit des EMST als nomadisches Museum ohne eigenes Haus) zur neuen Direktorin des nunmehr etablierten EMST. Dafür verließ sie sogar ihre Wahlheimat Brüssel.

Installationsansicht Susan Meiselas: “A Room of Their Own” im EMST. A Room of Their Own. Foto: Mar Efstathiadi

Gregos‘ Weg nach Athen ist das spannende Beispiel einer kuratorisch hochklassigen, politisch furchtlosen Intellektuellen in einer öffentlichen Institution. „What if Women Ruled The World?“ ist eine weitere der Ausstellungen, mit der sie unterstreicht, dass sie ihren erklärten Vorsatz, auch im Staatsdienst „thought provoking exhibitions“ zu machen, nicht aufgeben will.

Ihr jüngster Coup ist eine veritable Pioniertat. Gregos räumte eine komplette Etage des Hauses für Künstlerinnen frei: 46 aller Nationalitäten und Alter zählt der gewaltige Parcours.

Bis zum Jahresende wird der Ende 2023 begonnene Zyklus in vier Teilen zusätzlich 18 Soloausstellungen weiblicher Positionen zeigen – von der britischen Bildhauerin Phyllida Barlow bis zur iranischstämmigen US-Künstlerin Tala Madani.

Christina Dimitriadis‘ Foto einer in verlängerter Belichtungszeit aufgenommenen, jungen Frau auf einem Sofa lässt sich als Metapher für Gregos‘ Politik der Sichtbarmachung und Repräsentationsgerechtigkeit interpretieren.

„Ich wollte die Vorstellung provozieren, wie ein Museum aussehen würde, in dem nicht nur ein paar symbolische Werke, sondern die Mehrheit von Künstlerinnen wären“ erklärt Gregos ihre Idee.

Rund 40 Jahre nach der aggressiven Frage der New Yorker „Guerrilla Girls“, ob Frauen nackt sein müssen, um ins Museum zu kommen, ist Gregos‘ Versuch, Simone de Beauvoirs „anderem Geschlecht“ den gebührenden Platz im Museum einzuräumen, nicht mehr so neu.

Yael Bartana: “What if Women Ruled the World”. Neon-Installation. Courteyy Annet Gelink Gallery, Amsterdam; Sommer Contemporary Art, Tel Aviv; Galleria Raffaella Cortese, Milano; Petzel Gallery, New York und Capitain Petzel, Berlin. Foto: Panos Kokkinias

In ihrer tief patriarchalen Heimat ist die Frage nach Women’s Power freilich weiterhin eine Provokation. Selbst wenn mit der Juristin Katarina Sakellaropoulu erstmals eine Frau an der Staatsspitze steht. Für ihren Posten wurde sie allerdings vom konservativen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis handverlesen.

Jeden Tag werden in Griechenland im Durchschnitt 50 Männer wegen Gewalt gegen Frauen oder Kinder in der Familie fest­genommen. Seit 2020 verübten Männer knapp 100 Femizide. Vor diesem Hintergrund liest man unweigerlich die Solo-Schau „A Room Of Their Own“. 

In den Zyklen „Archives Of Abuse“ und „A Room Of Their Own“ hat die amerikanische Magnum-Fotografin Susan Meiselas ihre Recherche zur häuslichen Gewalt in San Francisco 1991/92 und zwanzig Jahre später den britischen West Midlands dokumentiert: Bilder von den Wunden der Frauen und den leeren Tatorten.

Trotz des programmatischen Mammutaufgebots verzichtet Gregos zum Glück darauf, diesen hyperdiversen Kosmos in einer politischen Aussage wie der Verheißung eines feministischen Utopia zusammenzuziehen. Nicht umsonst steht ein Fragezeichen hinter dem Ausstellungstitel.

Erfunden hat ihn die israelische Multimediakünstlerin Yael Bartana. Weit leuchtend strahlt der Slogan als Neon-Installation von zwei Frontseiten des EMST in die attische Hauptstadt. Und ob Bartanas Antikriegs-Fanal „Two minutes to Midnight“ von 2020, einem der Highlights der Ausstellung, zu Zeiten des Ukraine-Kriegs politisch zündet, ist ungewiss.

Penny Siopis: Pinky Pinky: Blue Eyes. Ölgemälde. Privatsammlung  Teresa Lizamore, Johannesburg. Foto: Penny Siopi/ Stevenson, Cape Town, Johannesburg and Amsterdam

In dem thrillerartigen 47-Minuten-Video entscheidet sich die rein weibliche Regierung eines fiktiven Landes, die sich unversehens der Ankündigung eines Nuklearschlags durch einen Autokraten gegenübersieht, die Waffen schließlich in ein Grab zu werfen.

Wenn die Schau eine Art Kernkompetenz femininer Ästhetik zu Tage fördert, dann einen Sinn für das Verletzliche. Besonders beeindruckend zeigt das das Solo von Penny Siopis, eine der faszinierenden Wiederentdeckungen von Gregos.

So sehr sich die 1963 als Tochter griechischer Eltern in Südafrika geborene Künstlerin einen Namen als Kämpferin gegen Rassismus und Kolonialismus machte, so poetisch und filigran kommt ihr Werk daher. In ihrer Arbeit „For Dear Life“ von 2020 lässt sie in einer auf dem Boden platzierten Leinwand Leim, Tinte und Ölfarbe ineinanderfließen.

„Meine Rolle“, erklärt die Künstlerin einmal die Bedeutung der energiegeladenen Komposition in der „hot colour“ Rot, „ist es, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich etwas ereignet“. Ihre „Philosophie“ ließe sich als Maxime jeglicher Herrschaft interpretieren, egal, ob sie von einem Mann oder eine Frau ausgeübt wird: „to shift human dominance“.

Ingo Arend

What If Women Ruled The World? EMST, Athen. Noch bis zum 24. November 2024

Der Tanz um Alicja Kwades Goldenes Friedens-Kalb in der Berliner Nationalgalerie

Wenn es mal so einfach wäre, Frieden zu schaffen, wie es Alicja Kwade suggeriert. Die Berliner Künstlerin hat Friedrich Drakes „Viktoria“ von der 1873 zur Feier der preußischen Reichsgründung eröffneten Berliner Siegessäule entwaffnet. Hat ihr Lorbeerkranz, Feldzeichen und den Adler abgenommen und die ebenso goldene Replica im Skulpturengarten der Neuen Nationalgalerie abgestellt.

Das hat zu Zeiten von Ukraine- und Gazakrieg einen gewissen Symbolwert. Mit einigem gutem Willen ließe sich die Aktion auch unter „queering the mainstream“ subsumieren. Ist doch die im Volksmund „Goldelse“ genannte Skulptur auch das Symbol von Berlins queerer Community, die in dem Stadtgrün rund um den Großen Stern einer ganz besonderen Form von body politics nachgeht.

Dem Titel der „Siegesgöttin“ entsprechend ist das Ganze aber auch eine echte „Win-Win-Situation“. Der promiverliebte Direktor Klaus Biesenbach kann sein angestaubtes Skulpturengrab mit einer angesagten Frau updaten. Kwade, deren Genius lange in Berlin schnöde übersehen wurde und heute ein Weltstar ist, der auf keiner Biennale fehlt, reiht sich ein in den Kanon der Moderne in der Hauptstadt der Berliner Republik, die sich gerade zur militärischen „Zeitenwende“ rüstet. Und die Freunde der Nationalgalerie können an einem warmen Sommerabend um das Goldene Kalb tanzen.

Dass die Künstlerin die schon viel früher hergestellte Skulptur Mies van der Rohe’s Nationalbungalow nun als Geschenk übereignete, sieht großherzig aus. Zahlt sich für seine Erschafferin dennoch aus. Auch auf symbolisches Kapital gibt es bekanntlich Zinsen. Aber wenn am Ende womöglich doch eine Friedensdividende dabei herausspringt, will ich meine müden Pazifistenaugen mal beide zudrücken.

Istanbuls wiedergewählter Bürgermeister Ekrem İmamoğlu startet eine historische Kunst- und Kulturpolitik am Bosporus

Ekrem İmamoğlu strahlte. Wahlkampf-Kalkül war natürlich dabei, als Istanbuls Bürgermeister sich Anfang März, kurz vor der Kommunalwahl, in einer historischen Schiffswert vor Gentile Bellinis Porträt von Sultan Mehmed aus dem Jahr 1480 ablichten ließ, dem Mann, der 1453 Konstantinopel eroberte.  

„Ich kann auch Sultan“ war das symbolpolitische Signal, das İmamoğlu mit dem Foto aussandte. In Vergessenheit geriet bei dem Blitz-Termin dessen kulturhistorische Bedeutung.

Schließlich hatte der Mann, den viele schon als künftigen Präsidenten der Türkei sehen, gerade das erste öffentliche Kunstmuseum der Stadt Istanbul eröffnet: Istanbul Sanat Müzesi – ein erstklassig renovierter Steinbau mit Ausstellungshallen, Bibliothek, Café, Museumshop und einem „Performance-Center“, direkt unter der Brücke zum Goldenen Horn.

300 Werke hingen in der Eröffnungsausstellung „Ah, Schönes Istanbul“ – darunter Leihgaben eines gewissen Kunstsammlers namens Ekrem İmamoğlu.

Schon vor zwei Jahren hatte die Istanbuler Galerie Beylikdüzü eine Auswahl der 400 Werke-Sammlung des passionierten Kunstliebhabers gezeigt. İmamoğlu sammelt querfeldein: Von der Grafik bis zur Skulptur, von der feministischen Ikone Fahrelnissa Zeid bis zum AI-Shooting-Star Refik Anadol.

Jedenfalls: Selbst Kenner der Istanbuler Kunstszene rieben sich ob der überraschenden Eröffnung des neuen Museums die Augen.

Die Kulturoffensive, die Istanbuls Stadtverwaltung (IBB) gerade am Bosporus inszeniert, ist eine echte Sensation. Wann hörte man zuletzt in Deutschland von Politikern den Satz: „Kultur ist die Lokomotive, die mich treibt“? Und İmamoğlus öffentlich intoniertes Bekenntnis ist mehr als ein Wahlkampfslogan.

Neben dem neuen Kunstmuseum hat die IBB seit dem Amtsantritt des charismatischen Menschenfängers vor fünf Jahren 17 neue Kulturinstitutionen eröffnet. Unglaubliche 28 weitere sollen folgen.

Das Istanbul Sanat war der vorläufige, spektakuläre Höhepunkt. Begonnen hatte es bereits 2022 mit dem Müze Gazhane, einer alten Gasfabrik in Kadıköy und im Juni 2023 mit dem Müze Feshane, einer alten osmanischen Fez-Fabrik im ultrakonservativen Stadtteil Eyüp.

Bei der Eröffnung hatte es noch laustarke Proteste von frommen Muslimen gegen die dort gezeigte, moderne Kunst gegeben. Jetzt posieren junge Frauen in Leggins und Kopftuch in der Schau „The Dynamic Eye: Beyond Op and Kinetic Art“ der Londoner Tate Modern vor Alexander Calders Mobiles.

Ähnlich begeistert reagieren die Besucher auf die Çubuklu Silolar. Die restaurierten Open-Air-Silos eines ehemaligen Erdöllagers im Stadtteil Beykoz, direkt am Ufer des Bosporus, beherbergen zum Auftakt neun cutting-edge-Werke der letzten Linzer Ars Electronica.

Im Bulgur Palas, einer seit Jahrzehnten verfallenen Villa, die der italienische Architekt Giulio Mongeri 1912 für den Bulgur Händler Mehmet Habib Bey im konservativen Fatih gebaut hatte, zeigt die Foto-Agentur Magnum eine große Schau. Auf der Dachterrasse mit atemberaubenden Ausblick auf das Marmarameer umrunden die Besucher:innen ein Panorama des historischen Istanbul.

Mit den neu eröffneten Häusern sichert die Stadt Istanbul vorbildlich das kulturelle Erbe der Stadt, das bislang regelmäßig der obsessiven Bauwut zum Opfer fiel. Sie funktionieren aber nicht nur als Sehenswürdigkeiten und White Cubes, sondern auch als soziokulturelle Zentren für die Nachbarschaft, wo Stadtteilgruppen Projekte lancieren können.

Ob sie die, auch in Istanbul immer rasantere Gentrifizierung beschleunigen, wird sich zeigen. Die nach öffentlichen Orten hungernde, kritische Szene fragt eher nach dem Budget für die Hanes und wer das Programm bestimmen darf.

Begeistert sind aber alle über deren Clou: Neben der Kunst sind sie mit hochmodernen, stilvoll ausgestatteten Bibliotheken ausgestattet, in die jedermann/frau unangemeldet spazieren, den Laptop auspacken und arbeiten kann. Auch an vielen der frequentierten „Iskelesi“, den Fähranlegern am Bosporus, hat die Stadt Buchläden eröffnet. 

Einerseits hat der neue Museumsboom der Stadt den heilsamen Effekt, dass die, sehr vom Geschmack ihrer großbürgerlichen Besitzer geprägten Privat-Museen wie das Istanbul Modern der Eczacıbaşıs oder das Kunstmuseum Arter der Koçs Konkurrenz bekommen.

Doch die „hidden agenda“ hinter der, für türkische Verhältnisse beispiellosen Kulturpolitik ist eine Re-Säkularisierung via Kultur gegen die schleichende Islamisierung. Anders gesagt: Erdoğan baut Moscheen, İmamoğlu Museen, Museen für Alle. Sie könnten zum Nukleus einer neuen liberalen Öffentlichkeit werden.

„Seit 14 Jahren sind wir an der Macht, aber wir haben immer noch Probleme im kulturellen Feld“, hatte Präsident Erdoğan vor ein paar Jahren vor der islamischen Ensar-Stiftung geklagt.

Auf diese wunde Stelle seines Widersachers zielt İmamoğlus Kulturrevolution am Bosporus. Mit ihr tritt er in die Fußstapfen von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, dessen berühmte Sentenz: „Eine Nation ohne Kunst ist eine Nation, die ihre Lebensadern verloren hat“ er beständig zitiert.

Auch dessen Republik ging aus einer Kulturrevolution hervor. Wenn İmamoğlus Neuauflage greift, dürfte sich Recep Tayyip Erdoğan an der Kultur weiterhin die Zähne ausbeißen.

Saudi-Arabien klotzt mit der größten Kulturoffensive der Kulturgeschichte seit den Medici. Rezension des Buches „Art in Saudi-Arabia. A New Creative Economy?“

„I was stunned“. 2022 traute die Künstlerin Halla bint Khalid ihren Augen nicht. Am Abend des 22. August hatten die saudi-arabischen Behörden Ashraf Fayadh freigelassen.

Nur geballter internationaler Protest hatte den Künstler, Kurator und Poeten 2015 vor der Todesstrafe gerettet. Seine islamkritische Kunst galt den Religionsgerichten als Indiz für den Abfall vom Glauben. Mit seiner Freilassung aus dem Gefängnis hatte niemand mehr gerechnet.

Rebecca Proctor und Alia Al-Senussi erwähnen in ihrem Buch über die saudische Kulturrevolution, die Kronprinz Bin Salman seinem Land 2016 unter dem Titel „Vision 2030“ verordnete, die aufsehenerregende Entscheidung, um deren Ambivalenz zu unterstreichen.

Als Indiz für eine Zivilisierung des Regimes in Saudi-Arabien taugt Fayads ein Jahr zurückliegender Fall dennoch nicht. Dem strategisch inszenierten Aufbruch zu mehr Freizügigkeit standen dort 2023 170 Hinrichtungen gegenüber, 23 mehr als im Jahr zuvor. Eine zivilisatorische Vision sieht anders aus.

Es spricht für den ersten zusammenhängenden Insiderinnenbericht der saudischen „Schocktherapie“ (US-Professor Bernard Haykel), dass seine Autorinnen deren Schattenseiten nicht verschweigen. Auch wenn sie nicht gerade zu den Speerspitzen des investigativen Journalismus zählen.

Proctor ist Ex-Chefredakteurin des Hochglanz-Magazins Harper’s Bazaar Art; Al-Senussi, eine libysche Prinzessin, bewegt sich in der lukrativen Grauzone der internationalen Art-Entrepreneurs, sie hat die Art Basel beraten und das saudische Kulturministerium.

Immerhin hat sie über das Thema promoviert. Den mutmaßlichen, königlichen Auftragsmord an dem Blogger Jamal Khashoggi erwähnen die Autorinnen explizit. Dennoch sympathisiert das Duo mit der „Vision 2030“.

Ihr Argument: Die unüberschaubare Kette von Biennalen, Festivals, Autorennen und futuristischen Wüstenstädten könnte eine Kreativwirtschaft initiieren, die Saudi-Arabien den Weg in eine postfossile Zukunft eröffnet.

In Dubai und Katar setzten die Herrschenden mit ihrer milliardenschweren Kulturklotzerei auf Prestige, in Saudi-Arabien auf die Aktivierung der Gesellschaft. Das habe eine soziale Dynamik in Gang gesetzt. Auch wenn die Autorinnen als zentralen Widerspruch der Vision ausmachen, dass sie Freizügigkeit propagiert, aber unter strikter Kontrolle des Staates steht.

Das mitunter etwas „visions“-selige Buch überzeugt immer dann, wenn die Autorinnen die Verhältnisse konkret beschreiben: Die Werden der Szene in den sechziger Jahren, in denen Künstler:innen wie Mounirah Mosly oder die 1940 geborene Safeya Binzagr auf den Plan traten, die heute den Ehrentitel „Mutter der saudischen Kunst“ trägt.

Sie beschreiben die Gründung der ersten saudischen Kunstschulen 1960; wie Mohamed Farsi, der Bürgermeister von Dschidda, 1974 einen Art-Boulevard aus 400 Skulpturen in der Hafenstadt installieren ließ; dass ausgerechnet die westliche Konzeptkunst in Saudi-Arabien gedieh, weil sich mit ihr das islamische Bilderverbot umgehen ließ.

2002, ein Jahr nach dem Attentat auf die New Yorker Twin Towers, gründeten Künstler um Abdulnasser Gharem und Ahmed Mater die Kunstbewegung „Shatta“. Sie wollten eine saudische Kunst jenseits der Adaption des westlichen Modernismus begründen. Das salmanische „Kunstwunder“ ist also nicht vom Himmel gefallen.

1979 geriet diese autochthone Szene unter den Druck der „Zwillingsrevolution“: Dem konservativen Backlash nach dem Attentat des islamischen Fundamentalisten Dschuhaiman auf die Große Moschee von Mekka 1979 und der Revolution Khomeinis im Iran.

Halla Bint Khalid erzählt, wie sie als Schulkinder damals die Bilder von Menschen und Tieren aus ihren Büchern eliminieren mussten. Was fast 30 Jahre verfolgt wurde, traut sich heute wieder ans Licht der Öffentlichkeit.

Derlei Ambivalenzen steht freilich weiterhin eine mehr als miserable Menschenrechtsbilanz in Saudi-Arabien gegenüber. Da bleibt es rechtfertigungsbedürftig, wie sich die deutsche Kuratorin Ute Meta Bauer dazu hergeben konnte, die zweite Ausgabe der 2021 gegründeten Diriyah-Biennale zu kuratieren, die Mitte Februar in Riad ihre Toren öffnet. Auf das Paradox einer „Kunstfreiheit“ in einer Diktatur, die ihre Gegner notfalls hinrichtet, darf man gespannt sein.

Art in Saudi Arabia. A New Creative Economy? By Rebecca Anne Proctor with Alia Al-Senussi. Lund Humphries, London 2023, 130 Seiten, 19,99 Pfund (23 Euro) 

In Deutschland darf es keine Staatsräsön-Kultur geben

Wie bekämpft man den Antisemitismus nach den Mordaktionen des 7. Oktober in Israel? Der Kulturkampf, der danach ausbrach, zeigte, wie schwer sich Kultur und Politik damit tun, die Eruption des Hasses zu analysieren und zu bekämpfen – auch in den eigenen Reihen.Bestimmt nicht mit der Flucht in die martialisch intonierten Leerformeln, die der seitdem tobende Kulturkampf gebiert.

Dass die Flucht in martialisch intonierte Leerformeln Teil des Problems ist, demonstrierte die Philosophieprofessorin Judith Butler. Der intellektuelle Fixstern der akademischen Linken weigerte sich, den Terror der Hamas gegen unschuldige Israelis zu verurteilen und bestand halsstarrig und ohne Empathie für die Opfer auf der Pflicht zur „Kontextualisierung“.

Ähnlich stereotyp war die Forderung in Deutschland, die Staatsbürgerschaft nur noch an jene zu verleihen, die das Existenzrechts Israels anerkennen. Dazu verstärkte sich die ohnehin verbreitete Neigung, jede Kritik an Israel als antiisraelischen Hass zu schmähen.

Die Liste der überstürzten Reaktionen auf vermeintlich antisemitische Haltungen im Gefolge des 7. Oktober ist lang. Es traf nicht nur die jüdische Künstlerin Candice Breitz, deren Ausstellung im Saarland-Museum mit Billigung der saarländischen Kulturministerin Streichert-Clivot abgesagt wurde, weil sie sich angeblich nicht genügend von der Hamas abgegrenzt habe.

Der Boykott traf auch die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen, die jüdischen Autorinnen Susan Neiman, Deborah Feldman, Adania Shibli oder die britische Schriftstellerin A.L. Kennedy. Der jüdischen Schriftstellerin Eva Menasse warf man Israelfeindlichkeit vor, weil sie zwischen der politischen und der ästhetischen Haltung der palästinafreundlichen Autorin Sharon Dodua Otoo unterschieden wissen wollte.

Wenn jetzt dem – problematischen – Aufruf „Strike Germany“ vorgeworfen wird, er verweigere mit seiner Aufforderung zum Kulturboykott Deutschlands den für die Kultur substanziellen Dialog, ist das wohlfeil. Der überzogene Aufruf ist auch eine Reaktion auf die Verweigerung des Dialogs mit den in Deutschland teils zu Unrecht gemaßregelten Künstler:innen, die von solchen Embargos betroffen waren.

Die Sorge der, der Sympathien mit der Hamas gewiss unverdächtigen „New York Times“, dass „eine Flut abgesagter Veranstaltungen Deutschlands Ruf als Hort der künstlerischen Freiheit bedroht“ ist also nicht ganz von der Hand zu weisen.

Der israelische Philosoph Moshe Zuckermann kritisierte einst Israels Politik gegenüber den Palästinensern als „Barbarei eines illegalen Okkupationsregimes“. Wiederholte der Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender diese Kritik heute in Deutschland, müsste er wohl mit der Absage seines nächsten Vortrags rechnen.

Generalverdacht, Ende der Debatte, Cancel Culture. In diesen Reflexen offenbart sich derselbe Rückzug in hermetische Lager wie bei dem Streit um die documenta fifteen im vorvergangenen Jahr – in dem einen verschanzten sich die Freunde des Globalen Südens, in dem anderen die unerbittlichen Anti-Antisemit:innen.

So rigide, wie sie derzeit geführt wird, läuft die Debatte auf einen bedenklich verengten Diskurs hinaus. Ungefähr wie zu Zeiten des RAF-Terrors, wo die leiseste Gesellschaftskritik mit einer Distanzierung von Baader, Meinhof&Co eingeleitet werden musste.

Zeiten, in denen antisemitisch motivierte „Vorfälle“ und Straftaten jedes Jahr auf neue Höchstzahlen klettern, verlangen nach mehr als Ermahnungen. Der jüngste, glücklicherweise bald wieder zurückgenommene Move des Berliner Kultursenators Joe Chialo (CDU), die Definition zum Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zur Vorbedingung der staatlichen Kulturförderung zu machen, die Antizionismus mit Antisemitismus gleichsetzt, dürfte aber auf einen ähnlichen Automatismus wie in den siebziger Jahren hinauslaufen.

Joe Chialo gelang damit das Paradox, eine Definition zur Weisheit letzter Schluss erklären zu wollen, die die IHRA selbst als vorläufig, als „Arbeitsdefinition“ versteht und von der selbst einige ihrer Erfinder sagen, dass sie ob ihrer Vagheit die Rede- und Meinungsfreiheit unterdrücken und begrenzen könnte.

Und er glaubte, die Debatte über die konkurrierende „Jerusalemer von der Definition“ quasi auf dem Verordnungswege abwürgen zu können, statt einen Dialog mit der Zivilgesellschaft und den Kulturinstitutionen darüber in Gang zu setzen, welche Maßnahmen am besten gegen Antisemitismus schützen.

Chialo muss sich vorwerfen lassen, dass er mit seinem überstürzten Vorgehen dazu beigetragen hat, dass sich der Aufruf wie „Strike Germany“ überhaupt erst entwickeln konnte, mit dem über 1000 Kulturschaffende aus aller Welt zu einem Kulturboykott Deutschlands aufrufen, weil sie glauben, dort gäbe es eine flächendeckende Zensur. – was so pauschal nicht stimmt.

Politische Hassreden und Produkte der künstlerischen Imagination können nicht an derselben, noch dazu von der Politik oktroyierten Schablone gemessen werden. Wenn jetzt auch noch die documenta-Verantwortlichen auf die Idee kommen, Chialos nun ad acta gelegte Formel zu einer Art Präambel künftigen kuratorischen Handelns in Kassel zu machen, in dem sie die von einer Beratungsgesellschaft vorgeschlagenen „Codes of conduct“ für die künftige Geschäftsführung der Schau und deren Kuratorische Leitung mit ähnlichen Klauseln füllen, ist die ohnehin angeschlagene Schau endgültig erledigt.

Es läuft dem Wesen der Kunst zuwider, auf ideologische Vorgaben festgelegt zu werden. Gerade in Deutschland darf es keine „Staatsräson“-Kunst, geschweige denn eine „Staatsräson“-documenta geben.

Zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört nicht nur die Absage an den Antisemitismus, sondern auch das Recht auf freie Meinungsäußerung. Es gibt keinen Ausweg aus dem „Skandal der freiheitlichen Ordnung“ (der Berliner Verfassungsrechtler Christoph Möllers), dass die Kunstfreiheit und das Zensurverbot des Grundgesetzes auch Meinungen schützen, die dieser Gesellschaft aus guten Gründen nicht gefallen – rassistische oder antisemitische eingeschlossen. Die Grenze des Hinnehmbaren regelt das Strafrecht. Das schon jetzt Aufrufe zur Volksverhetzung, Rassenhass und gruppenspezifische Formen der Menschenfeindlichkeit unter Strafe stellt.

Es bedarf keiner zusätzlichen juristischen Leitplanken, die zwangsläufig die Gefahr bergen, die Kunstfreiheit einzuengen: Einerseits durch vorauseilende Selbstzensur, andererseits durch eine Regelabfrage oder dem Verfassungstreue-Check eingeladener Künstler:innen analog zu der von Beamten. Es bedarf vielmehr einer wachsamen Zivilgesellschaft, die sich, wie in Kassel vor anderthalb Jahren, zu Wort meldet, wenn etwas aus dem Ruder zu laufen droht.

In der Hitze der jetzigen Debatte droht das berechtigte Beharren auf einer Abgrenzung vom Hamas-Terror und der Verteidigung des Existenzrecht Israels in ein leeres Ritual umzuschlagen: das blinde Schwingen der Antisemitismus-Keule und einen proisraelischen Bekenntniszwang.

Der in Sonntagsreden gern beschworenen Streitkultur und dem leider wohl nie endenden Kampf gegen das zivilisatorische Grundübel Antisemitismus ist mit schnell auswendig gelernten Bekenntnisformeln, die die Folge solcher Gebote wären, aber wenig gedient. Sondern nur mit einer offenen Debatte ohne Tabus über dessen Entstehungsgründe und Erscheinungsformen. Wo, wenn nicht in der Kultur, in der Kunst sollte sie geführt werden? Dazu muss sie frei bleiben.

Antisemitisch? Israelfeindlich? Der Krach beim Pen-Berlin um Ernst Piper und Eva Menasse offenbart eine Strukturschwäche des öffentlichen Diskurses um den Gaza-Krieg und die Folgen

Wie bekämpft man den Antisemitismus nach den Mordaktionen des 7. Oktober? Gewiss nicht so wie der immer schärfere Kulturkampf, der seitdem tobt. So manche suchen da ihr Heil in gestanzten Bekenntnissen und ideologischen Schablonen.

Diese Flucht in martialisch vorgetragene Leerformeln gilt für die Weigerung der US-Philosophieprofessorin Judith Butler, den Terror der Hamas punktuell zu verurteilen. Ihr Buzzword war die Pflicht zu dessen – wie sie sagte – „Kontextualisierung“.

Die Flucht in martialisch vorgetragene Leerformeln gilt aber auch für den Ruf in Deutschland, die Staatsbürgerschaft nur noch gegen ein Bekenntnis zum Staat Israel zu verleihen, dieses Bekenntnis als „Staatsräson“ gar im Grundgesetz zu verankern. Und die Neigung, jede Kritik an Israel als antiisraelischen Hass zu schmähen.

Zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört freilich nicht nur die Absage an den Antisemitismus, sondern auch das Recht auf freie Meinungsäußerung. Selbst der Aufruf zum Boykott, das urteilten Deutschlands oberste Richter mehrmals, kann durch dieses Recht gedeckt sein.

Wenn die saarländische Kulturministerin meint, sie könne die Absage einer Ausstellung der südafrikanischen, jüdischen Künstlerin Candice Breitz durch das Saarland-Museum rechtfertigen, weil sie sich – was nicht stimmt – nicht genügend von der Hamas abgegrenzt und Israel zum Waffenstillstand aufgerufen habe, läuft das auf einen gefährlich verengten Diskurs hinaus.

Ungefähr wie zu den Zeiten des RAF-Terrors, wo nur die leiseste Gesellschaftskritik mit einer Distanzierung von Baader, Meinhof&Co eingeleitet werden musste.

Diesem Reflex folgt auch die Entscheidung des Autors Ernst Piper, den Pen Berlin zu verlassen. Die Warnung seiner Pen-Kollegin, der Philosophin Susan Neiman, ebenfalls Jüdin, vor einem „verordneten Philosemitismus“, mag zugespitzt sein.

Israelfeindlich ist sie genauso wenig wie der Einwurf seiner Pen-Kollegin, der Schriftstellerin Eva Menasse, zwischen der politischen und der ästhetischen Haltung der Autorin Sharon Dodua Otoo zu differenzieren, die vor acht Jahren eine Petition zum Boykott Israels unterschrieben hatte.

Der israelische Historiker und Philosoph Moshe Zuckermann kritisierte einst die Politik seines Heimatlandes gegenüber den Palästinensern als „Barbarei eines illegalen Okkupationsregimes“. Heute müsste der Sohn polnisch-jüdischer Holocaust-Überlebender damit rechnen, dass sein nächster Vortrag in Deutschland abgesagt wird, wenn jemand dieses Zitat entdeckt.

Generalverdacht, Ende der Debatte, Cancel Culture. In diesen Reflexen offenbart sich genau derselbe Rückzug in die hermetischen Lager wie bei dem Streit um die documenta fifteen – hier die Freunde des Globalen Südens, da die unerbittlichen Anti-Antisemit:innen.

Bei allem Verständnis für die Kritik an der bestürzenden Kälte und Distanz vieler Intellektueller in der ganzen Welt angesichts der israelischen Opfer des Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober.

In der Hitze der jetzigen Debatte droht das berechtigte Beharren auf einer Abgrenzung von derem Terrorismus und auf dem Existenzrecht Israels in ein sinnentleertes Ritual umzuschlagen: das blinde Schwingen der Antisemitismus-Keule und einen proisraelischen Bekenntniszwang.

Der Streitkultur und dem leider wohl nie endenden Kampf gegen das zivilisatorische Grundübel Antisemitismus ist mit derlei rhetorischen Automatismen aber wenig gedient. Sondern nur mit einer offenen Debatte ohne Tabus. Wo, wenn nicht in der Kultur sollte sie geführt werden.

Defne Ayas als „zu radikal“ abgelehnt. Der Streit um die Ernennung von Iwona Blazwick zur Kuratorin der 18. Istanbul-Biennale eskaliert in der Türkei.

„Wir freuen uns, dass Iwona Blazwick unserer Einladung gefolgt ist, die 18. Istanbul-Biennale zu kuratieren“. Als die Istanbuler Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV) in der vergangenen Woche diese Pressemitteilung verschickte, klang das nach den rituellen Formeln des Kunstbetriebs.

Im gebührenden Abstand zur Kunstbiennale vom letzten September gab die private Stiftung, die von der Industriellen-Familie Eczacıbaşı unterhalten wird und die renommierte Biennale veranstaltet, die Kuratorin für die nächste Ausgabe im September 2024 bekannt.

Auf den ersten Blick klang das wie eine gute Nachricht. Die 1955 geborene, britische Kunstkritikerin und Dozentin ist ein respektiertes Schwergewicht der internationalen Kunstszene.

Sie forschte über Henry Moore, arbeitete für die Londoner Tate, war über zwanzig Jahre Direktorin der Whitechapel Gallery in der britischen Hauptstadt. Blazwick gilt als Wegbereiterin der Young British Artist um Damien Hirst, sitzt in zahlreichen Beratungsgremien.

Was ihre Berufung heikel macht, sind deren Hintergründe. Nach Informationen der taz setzte sich die Stiftung über das Votum des IKSV-eigenen „Advisory Boards“ hinweggesetzt, das einstimmig die in Berlin lebende, türkisch-deutsche Kuratorin Defne Ayas auserkoren hatte.

Auch Ayas ist im Betrieb keine Unbekannte. Die Kunsthistorikerin leitete sechs Jahre das damals „Witte de With“, heute „Melly“ genannte Zentrum für zeitgenössische Kunst in Rotterdam, kuratierte zahlreiche Biennalen vom südkoreanischen Gwangju über das Baltikum bis Shanghai und kann ebenfalls auf eine stattliche Anzahl von „Advisory“-Panels verweisen.

Eine taz-Anfrage nach den Gründen für die Ablehnung Ayas‘ und die Entscheidung für Blazwick ließ die IKSV unbeantwortet. Insider vermuten, dass sie mit Ayas‘ Rolle als Kuratorin des Türkischen Pavillons auf der Venedig-Biennale 2015 zu tun haben, den ebenfalls die IKSV verantwortet. Im Jahr der 100. Wiederkehr des Völkermords an den Armeniern stellte Ayas unter dem Titel „Respiro“ den türkisch-armenischen Künstler Sarkis vor.

Prompt gab es Ärger mit der türkischen Regierung, weil Rakel Dink, die Witwe des ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink, im Katalogessay das Wort „Genozid“ verwandt hatte.

Sarkis Arbeit ist derzeit offenbar problemlos in einer Sarkis-Retrospektive des Istanbuler Kunstmuseums Arter zu sehen. Deren Inhaber, die private Koç-Foundation fungiert seit vielen Jahren als Hauptsponsor der Istanbul-Biennale. Ayas selbst bereitet gerade eine Sarkis-Schau unter dem Titel „7 Days, 7 Nights“ in der Staalichen Kunsthalle Baden-Baden im Oktober dieses Jahres vor.

Wollte die IKSV sich ähnlichen Ärger bei ihrer nächsten Biennale vermeiden? Wenn es stimmt, dass einer der Gründe für die Ablehnung ist, dass Ayas „zu radikal“ ist, so wurde eine interne IKSV-Einschätzung kolportiert, dann fragt sich, welchen Wert die Istanbul-Biennale noch hat, schließlich hat erst diese Haltung die Biennale weltweit berühmt gemacht.

Viele in der türkischen Kunstszene stellten dieser Tage die ironische Frage,  warum sich die IKSV ein Advisory Board hält, wenn es im Zweifelsfalle dann doch nichts zu sagen hat. Als Konsequenz daraus sind mittlerweile Selen Ansen, Kuratorin des Istanbuler Arter-Kunstmuseums sowie der spanische Kurator Agustín Peréz Rubio aus Protest als Mitglieder des Advisory Boards zurückgetreten. Nun schwappt der Zwist in die türkische Kunstöffentlichkeit.

Künstler:innen wie Köken Ergun, Duygu Demir oder Banu Cennetoğlu bemängeln in den sozialen Medien, dass die IKSV zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht die Namen der Jury veröffentlichte und, dass Blazwick 2015, 2017, 2019 und 2022 selbst Mitglied des Advisory Board gewesen sei. „Könnte es sein, dass sie sich selbst berufen hat? Ist das ein Muster?“ – so oder ähnlich lauten die Posts.

Natürlich kann die IKSV, wie sie in einer schnell zusammengezimmerten Erklärung nach dem Bekanntwerden der Personalie klarstellte, die Empfehlungen des Advisory Boards übergehen.

In dem immer autoritäreren Kontext der Türkei verfehlt die IKSV mit ihrem Vorgehen aber nicht nur die Zeichen von „transparency“ und „accountability“, die Kunstinstitutionen weltweit verstärkt von sich einfordern. Auch das politische Signal ist zwiespältig.

Denn seit 2022 leitet Blazwick das Projekt „Arts AlUla“, einer gigantischen, jährlichen Open-Air-Skulpturenausstellung im saudischen Al-ʿUla, einer Oase mit prähistorischen Gesteinsformationen und Ruinen, nordwestlich von Medina. Zudem soll sie ein Museum der Zeitgenössischen Kunst aufbauen.

Diese Projekte gehören zur „Vision 2030“, mit der Kronprinz Mohammed Bin Salman eine Modernisierung seines Landes einleiten will. Die Bildende Kunst spielt darin eine Schlüsselrolle.

Folgt die IKSV damit dem Vorbild Recep Tayyip Erdoğans? Fünf Jahre nach dem von ihm heftig kritisierten Mord an dem Blogger Jamal Khashoggi, den Salman in Auftrag gegeben haben soll, hatte der türkische Staatspräsident im Juli mit einem Besuch in Dschidda die Beziehungen zu dem Königreich still normalisiert.

Im Gegenzug für den Verkauf türkischer Kampfdrohnen, hofft Erdoğan auf Finanzhilfen aus Riad, um seine heimischen Haushaltslöcher zu stopfen.  Am lukrativen saudischen Kunst- und Investitions“wunder“ wollen derzeit viele partizipieren.

Innovative Form, widerständige Ästhetik: Die vierte Autostrada-Biennale im kosovarischen Prizren

Pferde ohne Reiter, hoch erhoben auf ehernen Sockeln. Luchezar Bouyadjievs Werke sind schon oft ausgestellt worden. Aber noch nie dürften sie so gut platziert worden sein wie auf der 4. Autostrada-Biennale, die Anfang Juli im kosovarischen Prizren eröffnete.

Seit zwanzig Jahren verfolgt der bulgarische Künstler sein Projekt der Dekonstruktion des Habitus von Militärs, Königen und nationalen Helden. Dazu retuschiert er aus Reiterstandbildern, die er auf der ganzen Welt fotografiert, die menschlichen Gestalten heraus.

Luchezars Serie mit dem ironischen Titel „On vacation…“ hängt derzeit in einem stillgelegten Militärhangar in dem ehemaligen Terrain der UN-KFOR-Truppen, die die Demilitarisierung des Kosovo nach den Kriegen 1998/99 überwachen sollten. In diesem gut bewachten Kontext geben sie einen besonders starken Kontrast ab.

Als die KFOR-Truppen 2018 das Feldlager unter dem Kommando der Bundeswehr, das schon im osmanischen Reich militärisch genutzt worden war, verließen, nutzte die klitzekleine Autostrada-Biennale in Kosovos zweitgrößter Stadt die Gelegenheit. Flugs verlegte sie ihr Hauptquartier in das Gelände, in dem die Stadt gerade ein Innovationszentrum aufbaut.

Autostrada, der Name der 2017 zum ersten Mal veranstalteten Kunstausstellung klingt wie eine Kreuzung aus einem Fellini-Film der 50er Jahre und der Werbung der Berliner CDU für ihr bevorzugtes Mobilitätsmittel.

Doch der Name, den drei junge Kulturschaffende aus Prizren ihrem Kind gaben, funktioniert mehr als ironische Metapher auf die zahlreichen Investitionsruinen, die vielen Ländern des Balkans ihre Spuren hinterlassen haben – von nicht fertiggestellten Shopping-Malls über Einfamilienhäuser bis zu Autobahnen.

Der Bildhauer Leutrim Fishekqui, die Pädagogin Vatra Abrashi und der Filmregisseur Baris Karamuço, damals alle Endzwanziger, wollten lieber in etwas sinnvolles investieren. Deshalb gründeten sie eine Kunst-Biennale.

In dem Kreis der weltweit rund 250 Biennalen ist Autostrada etwas Besonderes. Denn den balkanischen Kunst-Aficionados geht es nicht um Spektakel-Kultur, Standortmarketing oder noch einen Gentrifizierungsmotor. Sie wollten das kulturelle Vakuum in einem Land füllen, in dem die Bildende Kunst kaum eine Rolle spielt.

Vor allem sollte ihre Biennale nicht nur nach dem üblichen, zweijährigen Ritual ablaufen. Sondern zwischen den Ausstellungen als Anlaufstelle für junge Menschen dienen, die ihre künstlerischen und kreativen Kräfte schulen wollen, aber keine Möglichkeit dazu finden.

Nahezu jede:r, der im 2008 unabhängig erklärten Kosovo Derartiges verwirklichen will, will in Deutschland studieren. Für einen Staat mit knapp zwei Millionen Einwohnern, der kleiner ist als Thüringen, ist dieser Brain-Drain ein Problem.

Rund 60 Jugendliche haben die Curator Labs und die Bildungsprogramme der Autostrada-Biennale: Neue Medien, Textil, Design, bislang durchlaufen, mehr als die Hälfte von ihnen Frauen.

In einer eigenen Werkstatt in den Hangars werden die Kunstwerke für die Biennale gefertigt. Reste von Arbeiten aus vorhergegangenen Editionen und der abgezogenen Truppen werden zu neuen Werken verarbeitet.

In dieses innovative Format haben die beiden Kuratorinnen Joanna Warsza und Övül Durmuşoğlu in nunmehr zwei von ihnen verantworteten Ausgaben den Geist einer widerständigen Ästhetik eingefüllt.

Das Berliner Duo, weit über Berlin bekanntgeworden durch seine „Balkone“-Ausstellung 2021 in Prenzlauer Berg während der Pandemie, versteht sich auf eine spannende Balance aus Politik und Schönheit.

Steht für die Politik ein Mann wie Luchezar, steht für letzteres Neda Saeedi. Die Künstlerin hat das leere Zentrum des alten Partisanendenkmals an der Flusspromenade von Prizren mit einer gelb-blauen Glasarbeit sacht entideologisiert, in der sechs stilisierte Amseln umeinanderkreisen. Damit nimmt sie den Mythos des Amselfeldes auf, der das Wort Kosovo bedeutet.

Gleich gegenüber hat Kostas Bassanos Walter Benjamins berühmten Satz: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne ein solches der Barbarei zu sein« aus großen Holzbuchstaben an den Lauf des Lumbardhi-Flusses gestellt, der Prizren wie ein Gebirgsbach durchspringt.

Ein kritisches Memento, das den anschwellenden Tourismus in der pittoresken Destination mit vielen Kulturdenkmälern vielleicht nicht zur Umkehr, aber doch für ein paar Minuten zum Nachdenken bringen könnte.

In der eine Fahrtstunde entfernten Hauptstadt Pristina hat Hera Büyüktascian den Hof einer ausrangierten Ziegelfabrik mit leuchtend blauen Stoffbahnen ausgelegt, um an die vergessenen oder verbauten Wasserläufe des Kosovo zu erinnern.

Im Unterschied zur Manifesta, die im vergangenen Jahr mit derlei Arbeiten ebenfalls in Pristina gastierte, ist die kleine Autostrada-Biennale aber eine selbstorganisierte Bottom-up-Initiative vor Ort.  

Der Wille, sich mit Kunst und Kultur gleichsam selbst aus dem Sumpf des schleichenden Bedeutungsverlust ihrer Heimat zu ziehen, ist die überall spürbare Energie dieses bewundernswerten Unternehmens.

Unter ihrem Biennale-Titel „All images will disappear one day“ spielen Warsza und Durmuşoğlu mit der Idee von der Nachhaltigkeit der Kunst, die sie gegen die kurzlebige visuelle Kultur der Gegenwart setzen. Wobei sie natürlich mit jedem ihrer 30 ausgewählten Werke den Beweis für die nie endende Präsenz aller Bilder liefern.

Immerhin etwas von ihrer Idee, das Unsichtbare, Verborgene sichtbar zu machen, scheint in den Arbeiten des 1930 geborenen Xhevdet Xhafa auf.

In Westeuropa ist dieser grandiose Vertreter des abstrakten Expressionismus nahezu unbekannt. In großformatigen, monochromen, an Pierre Soulages erinnernden Bildern, hat er Alltagsgegenstände integriert.

Was bleibt, wenn die Bilder verschwinden, so ließe sich seine, „Autobiographie“ betitelte Serie interpretieren, sind vage, amorphe Erinnerungen.

Manchmal kehren aber auch die alten Bilder zurück. Mitrovicas Bürgermeister Bedri Hamza von der Mitte-Rechts-Partei PDK war die Rührung anzusehen, als er vorvergangenen Sonntag ausgerechnet Alban Mujas Werk „Moving Monument – Moving Back“ an dem zweiten Außenstandort der Biennale eröffnete.

Weil die Replik davon, die er in der Autostrada-Biennale 3 vor zwei Jahren präsentiert hatte, so viel Aufsehen erregte hatte, hatte der Künstler, der aus Mitrovica stammt und heute in Berlin lebt, das Denkmal „Gleichheit, Arbeit und Bildung“, welches in den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts errichtet worden und 2010 aus, bis heute ungeklärten Gründen von ihrem zentralen Platz entfernt worden war, mit dem Autostrada-Team nachgebaut.

Der Umriss zweier aufrechtstehender Männer und einer Frau, die Werkzeuge, eine Taube und ein Buch in ihren Händen halten, stand emblematisch für das Ideal der sozialistischen Gesellschaft, die 1989 mit dem Staat Jugoslawien zerfiel. Etwas von dieser zeitlosen Idee hat in der großartigen Initiative namens Autostrada-Biennale überlebt.

www.autostradabiennale.org