Ingo Arend, born in Frankfurt am Main. Political Scientist and Historian, studied in Bonn and Colonge. Since 1990 cultural journalist and essayist für visual arts, literature and cultural policy. From 1996 to 2010 editor of the german weekly „der freitag“ (editor-in-chief and head of the cultural department from 2007-2009). Editor for the arts of „taz – die tageszeitung“ and „Deutschlandradio Kultur“ in Berlin 2012/13. Member of the Jury for the award for independent project spaces (2013), for the scholarship for visual arts of the berlin senate (2013) and berlin city-tax-scholarships for the arts (2015). Member of the praesidium of nGbK – neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin. Special field: art and history, art and politics, arts, culture and history in turkey and menasa-region.
Weblog: Ästhetics and Democracy: http://www.ingo-arend.de/
Paris des Nahen Ostens. In keiner Rede über Beirut fehlt diese Floskel. Dass sie mehr als ein ausgeleiertes Klischee ist, zeigt jetzt die Ausstellung „Beirut and the Golden Sixties“ im Berliner Gropius-Bau. Sam Bardaouil und Tim Fellrath lassen darin eine kulturelle Blütezeit wiederauferstehen, die Ende der 1950er Jahre begann und gegen die die Kunstmetropolen Paris oder New York plötzlich blass wirken: Ein faszinierendes Nebeneinander von kosmopolitischem Lebensstil, ästhetischer Moderne und sexueller Libertinage. Kurze zwanzig Jahre, 1975 verwandelte dann ein 15jähriger Bürgerkrieg die „Schweiz des Nahen Ostens“ in eine Trümmerlandschaft ähnlich der der Ukraine heute.
In der elektrisierenden Schau springen einen die kreativen Energien dieser Zeit gleichsam körperlich an. Die zwei Kunsthistorikern wollen aber mit ihrem Parcours von 200, teils eigens für die Schau restaurierten Exponaten von der Malerei, historischen Plakaten bis zur Op-Art kein „Goldenes Zeitalter“ nostalgisch verklären. Sonst hätten sie die Ausstellung nicht „Manifesto of Fragility“ untertitelt. Schon Khalil Zgaibs Ölbild von 1958 gleich zu Beginn signalisiert: Das Kunstparadies Beirut war ein ständiger Tanz auf dem Vulkan. Auf dem Werk kreuzen amerikanische Kriegsschiffe durch den strahlend blauen Hafen.
Joana Hadjithomas und Khalil Joreige schlagen den Bogen zur Gegenwart. Ein Dutzend im Kreis aufgestellter Bildschirme zeigt aus der Perspektive von Überwachungskameras des privaten Sursock-Museums den Moment, in dem die Explosion vom 4. August 2020 im Hafen Beiruts zwei Drittel der Stadt zerstörte. Eine Installation wie ein aktuelles Menetekel: Noch die prächtigste Kulturlandschaft kann in Sekunden zu Schutt und Asche verfallen.
Den beiden Kuratoren mit Liebe zur Peripherie begegnete äußerste Skepsis, als die scheidende Kulturstaatsministerin Monika Grütters sie Ende vergangenen Jahres noch kurz vor dem Regierungswechsel überraschend als Direktoren-Duo von Berlins Hamburger Bahnhof durchdrückte. Nach dieser kuratorischen Glanzleistung sieht man ihrer Arbeit in dem vor sich hin dümpelnden „Museum der Gegenwart“ plötzlich mit äußerster Spannung entgegen.
Sie sind in Russland geboren und leben in Österreich. Was bedeutete für Sie Wladimir Putins Entscheidung zum Krieg?
Als Russin bin ich vor zehn oder zwölf Jahren oft in der Küche von Freunden und Bekannten gesessen, entsetzt darüber, dass Russland in einer antiwestlichen, obskurantistischen und fremdenfeindlichen „Souveränität“ versinkt, und habe – ausgerüstet mit einem gut bekannten historischen Beispiel – gescherzt, dass nur eine Niederlage in einem großen Krieg diesen schrecklichen Niedergang umkehren könnte. Wir dachten nicht daran, wollten nicht daran denken, was das für ein Krieg sein könnte. Man kann uns unsere erlernte Hilflosigkeit, die russische Hauptsünde, vorwerfen. Putin hat nie einen Hehl aus seinen Plänen für die Ukraine gemacht. Das Wort „Faschismus“ fiel hin und wieder in unseren Gesprächen, aber wir wussten nicht, dass Putin zu dieser Zeit bereits Bücher von Iwan Iljin, dem wichtigsten faschistischen Exilautor der 1920er Jahre, an alle seine Generäle verteilte. Das ist es, was sie jetzt antreibt.
Viele stellen angesichts des unerwarteten Angriffs die Frage nach der Rationalität des russischen Handelns. Ist Wladimir Putin verrückt?
Nein. Er mag falsche Information erhalten oder Illusionen darüber gehabt haben, was die Ukraine und die Ukrainer:innen heute sind, aber er ist sehr rational in dem, was er will, nämlich das Land, dessen Zar er ist – nicht nur die Ukraine –, völlig umzugestalten. Er sieht die Ukraine überhaupt nicht und es ist ihm egal, ob sie ruiniert wird, sie ist nur ein Mittel zum Zweck. Er will ein riesiges Imperium mit völlig untergebenen Untertanen, eine Art Nordkorea. In der Tat ist die kalte Effizienz seiner nagelneuen Propagandamaschine, seines Loyalitätssystems, seiner kürzlich verfeinerten Fake-Wahlen sowie seines Terrors erschreckend.
Das gilt auch für Russland?
Eines der bekanntesten Bonmots aus dem Russland des 19. Jahrhunderts, das verschiedenen historischen Persönlichkeiten zugeschrieben wird, lautet, dass „die Strenge der russischen Gesetze durch die Nachlässigkeit bei ihrer Anwendung kompensiert wird“. Das ist heute nicht mehr der Fall. Russland und die Sowjetunion waren, selbst unter Stalin, berühmt für ihre bizarren gesellschaftlichen Nischen, in denen man als Dissident:in überleben konnte, ohne allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jetzt steht man überall im Rampenlicht der totalen Kontrolle. In Russland wurde gerade die Covid-Maskenpflicht abgeschafft, offensichtlich, damit die repressive Maßnahme der Gesichtserkennung bei potenziellen Demonstrant:innen oder Leuten, die Antikriegsaufkleber an den Wänden anbringen, besser funktioniert.
Was ist Putins Krieg für ein Krieg? Ein tollkühner Schurkenstreich wie der, als Friedrich der Große Maria Theresia Schlesien raubte? Ein Präventivkrieg gegen eine drohende Einkreisung? Ein imperiales Auftrumpfen?
Es ist ein etwas falsch abgeschätzter Krieg um die Welthegemonie, wie wir ihn schon lange nicht mehr erlebt haben. Die Welt hat den Golfkrieg im Fernsehen gesehen und Baudrillard geglaubt, dass er „nicht existiert“. Die Jugoslawienkriege hat Europa etwas genauer betrachtet und sie als ethnisch-religiöse, interne Streitigkeiten dieser „Barbaren vom Balkan“ abgetan. Am Anfang gab es die Tendenz, den Krieg in der Ukraine in diesem Licht zu sehen: dass er vom Hass der Russ:innen auf die Ukrainer:innen getrieben ist. Tatsächlich hat seit 2014 die putinistische Propaganda diesen künstlichen Hass der russischen Bevölkerung aggressiv eingetrichtert, und ein generelles Überlegenheitsgefühl angespornt. Wichtiger ist aber vielleicht eine sehr tiefgreifende und beschämende koloniale Haltung vieler Russ:innen gegenüber der Ukraine, aber auch, auf eine leicht schizophrene Art, gegenüber der ganzen Welt. Putin hat zur großen Überraschung des ganzen Landes, einschließlich, da bin ich mir sicher, seines Militärs, diese Fantasien von „Wir sind die Stärksten der Welt“ einfach ausgespielt. Tausende von Menschen werden dafür mit ihrem Leben bezahlen, und die Russ:innen werden ihr Überlegenheitsgefühl auch kulturell überdenken müssen.
Russische Künstler:innen im Westen geraten jetzt unter Druck. War es richtig, einen Mann wie den Dirigenten Valery Gergijew als Chef der Münchener Philharmoniker zu entlassen?
Man darf nicht alle Besitzer:innen eines russisches Passes in einen Topf werfen, aber Herr Gergijew ist nicht einfach jemand, der politisch passiv ist, er ist, wie zum Beispiel auch der Filmregisseur Nikita Michalkow, jemand aus dem innersten Kreis Putins, der ihn an jeder Station seines verhängnisvollen politischen Wegs aktiv unterstützt hat. Also ja, es war die richtige Entscheidung, ihn zu entlassen, als Russland einen verbrecherischen Krieg begonnen hat. Der Westen versteht nicht, dass jemand wie Gergijew oder Michalkow oder der Philosoph Alexander Dugin viel mehr politische und ideologische Macht haben als die russischen Oligarchen, deren Vermögen jetzt konfisziert wird. Die haben jetzt viel weniger Macht als in den 1990ern. Man muss verstehen, wie der russische Staat wirklich funktioniert.
Was halten sie von den Boykottaufrufen gegen russische Künstler:innen?
Es gibt jetzt Boykottaufrufe gegen die russische Kultur insgesamt. Sie sind emotional aufgeladen und kaum zu verwirklichen, so dass wir nicht allzu vehement dagegen protestieren sollten. Aber interessanterweise zielen sie nicht auf die russische Kultur als „eine der slawischen Kulturen“ ab, wie es die slowakische oder tschechische wäre. Sie zielen auf die messianische Identität Russlands, seine imperiale, übernationale Idee – Putins Idee eben. Diese Stimmung gibt es tatsächlich in der russischen Kultur, wenn auch definitiv nicht bei Tschechow oder Strawinsky. Aber von nun an werden wir russische Romane mit diesem blutigen Krieg im Hinterkopf lesen, so wie wir die deutsche Romantik mit etwas Vorsicht lesen. War das Gift vielleicht schon da?
Wie könnten Kunst und Kultur reagieren, ohne die Brücken zur russischen Zivilgesellschaft abzubrechen?
Es geht nicht mehr um die Brücken zur russischen Zivilgesellschaft. Im Moment geht es darum, dieser Gesellschaft zu helfen, physisch und intellektuell zu überleben, im Exil und in Russland selbst. Man muss viele Anti-Putin-Aktivist:innen buchstäblich retten, weil sie in Russland jetzt einem enormen Risiko ausgesetzt sind oder in den Nachbarländern ohne europäisches Visum festsitzen. Man muss das Kurzwellenradio wiederbeleben, das den Menschen in Russland die Wahrheit sagen könnte. Man muss die oppositionellen russischsprachigen Medien unterstützen, die jetzt entstehen werden. Natürlich geht es in erster Linie darum, der Ukraine und den Ukrainer:innen in ihrem heldenhaften Kampf und – da bin ich mir sicher – beim heldenhaften Wiederaufbau ihres Landes zu helfen. Aber auch die russischen Dissident:innen werden Hilfe brauchen.
Wie kommen wir aus dem Krieg heraus?
Der Krieg wird zu Ende gehen. Putin begreift langsam, dass der Blitzkrieg Wunschdenken war. Ich habe Hoffnung für die Ukraine, auch wenn das Land in Trümmern liegen wird, aber für Russland habe ich wenig. Im Moment bezeichnet Putin alle prowestlichen Menschen als „Landesverräter:innen“, und mysteriöse Gruppen malen ein „Z“ (ein Designer-Logo für Putins Krieg, möglicherweise eine absichtliche Falschschreibung von „Sieg“) an die Tür von Anti-Putinist:innen, um sie ins Visier zu nehmen. Der Krieg findet nicht nur in der Ukraine statt, sondern auch in Russland selbst: Es ist ein Bürgerkrieg, der fürs Erste nicht zu enden scheint.
„Wir gehen schnell auf Putins Ende zu“ hat dieser Tage der Regimekritiker und Ex-Oligarch Michail Chodorkowski prophezeit. Wird er Recht behalten?
Davon träumen gerade viele Russ:innen, die keine Anhänger:innen Putins sind. Das Paul-I.-Szenario wird angeführt: Dder einzige Sohn von Katharina der Großen wurde von seinen Gefolgsleuten ermordet, die ihn für verrückt hielten, auch Stalins Tod, ob er nun eine natürliche Ursache hatte oder nicht. Ein Militärputsch ist nicht ausgeschlossen. Das Regime ist im Moment so stark auf eine Person ausgerichtet, dass es sich mit seinem Ableben ändern wird. Aber das Gift seiner Ideologie ist leider sehr tief in die Gesellschaft eingedrungen. Man braucht jetzt eine politische und kulturelle Revolution in der Größenordnung der Oktoberrevolution, und ich sehe niemanden, der in der Lage wäre, diese Aufgabe zu erfüllen.
Sie sind gerade für weitere vier Jahre als Intendantin des Steirischen Herbst bestätigt worden. Was bedeutet die Erfahrung dieser politischen Zeitenwende für Ihr Festival und die Kultur generell?
Für den steirischen herbst bedeutet diese Zeit eine Art Déjà-vu, denn die erste Ausgabe 1968 hatte den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei und eine Flüchtlingswelle als Hintergrund. Der steirische herbst war schon immer ein Festival einer Grenzregion, und hat Verbindungen über diese Grenzen hinweg hergestellt, wir sind also bereit. Und der Krieg zeigt, dass wir alle, die Kulturschaffenden auf der ganzen Welt, uns und unsere Diskurse immer wieder auf die Viren des Hegemonismus, Imperialismus, Nationalismus, Neid, Hass, Rache und Ressentiments testen müssen. Denn sie tauchen immer wieder auf.
„Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik“. Der Merksatz, mit dem Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen) vergangene Woche die 72. Berlinale eröffnete, klang nach den Satzbausteinen aus dem Poesiealbum der Kulturpolitik. Doch für das 1951 gegründete Filmfestival gilt er ausnahmsweise wirklich. Verstand sich die Berlinale doch immer als politisch und gesellschaftsbezogen.
So auch in diesem Jahr: Von Andreas Dresens Guantanamo-Film „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ bis zu Natalia Sinelnikovas Sicherheits-Dystopie „Wir könnten genauso gut tot sein“ reichte das Angebot an kritischen „Perspektiven auf die Gegenwart“, die Roth mit der Förderung des Festivals und des Films als Kunstform beabsichtigt. Die Berlinale verstand sich nie als exklusiv cineastisch, sondern platzierte sich imer an den Schnittstellen und Überlappungszone des Visuellen.
Personeller Beleg dafür war nicht nur, dass die Berliner Filmemacherin und Installationskünstlerin Rosa Barba in der Jury des Kurzfilmpreises saß. Und Hito Steyerl mit ihren beiden Essayfilmen „Die leere Mitte“ (1998) und „Normalität 1-10“ (2001) über Stadtentwicklung in Berlin und alltägliche neofaschistische Gewalt in Deutschland und Österreich in der Sektion Special des „Forum“ der Berlinale auftauchte.
Sinnfällig wurde dieses Verständnis wie immer im „Forum Expanded“ der Berlinale, traditionell der Ort, an dem sich Film und Bildende Kunst zu einer Art drittem Medium, streng avantgardistisch, vermengen. Die 24 Filme und 13 Installationen deckten den critty-polity-Mainstream derzeit ab: Queerness, Postkolonialismus, Kapitalismuskritik.
Nur wenige Streifen wie Liz Rosenfelds „White Sands Crystal Foxes“, welcher eine Welt erfindet, in der sich die Natur den Menschen untertan gemacht hat, arbeiteten dabei mit den Mitteln der Fiktion statt den allgegenwärtigen Dokumentarismen und (Semi)-Reportagen.
Zum wiederholten Mal war in diesem Jahr der britische Architekt Eyal Weizman mit seinem Recherche-Verbund „Forensic Architecture“ eingeladen. Deren Video „77sqm_9:26min“ über die Rekonstruktion des Mordes an dem Kasseler Kiosk-Besitzer Halil Yozgat durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) war zwar nicht neu.
Doch die Präsentation an Filmfestivals oder Biennalen hat den Vorteil, den politisch immer hochbrisanten Ergebnissen dieser Recherchen eine Öffentlichkeit „beyond the legal bubble“ zu erschließen, wie Weizman erläuterte. Womit er eine weitere Facette von Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik beschrieb.
Der Lockenschopf. Das war früher das Erkennungszeichen von Olaf Scholz. Wann immer der freche Juso aus Hamburg im Bundesvorstand der Jusos oder auf ihren turbulenten Bundesdelegiertenversammlungen auftauchte, war er schnell zu erkennen an seiner verwuschelten Haartracht. Die auch ein Symbol für seine politische Unberechenbarkeit war. Und für die verschlungenen Wege, die er einschlug, um an sein politisches Ziel zu kommen.
Kaum tauchte er auf, verbreitete sich nervöse Unruhe im Saal. Entweder wegen der Intrigen und Bündnisse, die dann geschmiedet wurden oder längst besiegelt waren. Wegen der ironischen Bemerkungen, die er verspritzte wie feinste Dosen unmerklich wirkenden Gifts. Oder wegen der Debatten, die er Backstage anzettelte, während sich vorne am Rednerpult die Gralsritter der Doppelstrategie noch dabei abwechselten, graues Recyclingpapier durch den Floskelkopierer zu schieben.
Dass Olaf Scholz keine Locken mehr hat, wird man ihm nicht vorwerfen können. Wenn das nicht einen Rollenwechsel signalisierte. Wo Ole von Beust, der flamboyant gelockte Großbürger und Scholz‘ Vorgänger als Hamburger Bürgermeister, sich und seinen konservativen Stammwähler so sehr öffnete, dass sie Schwarz-Grün feierten und ihm selbst eine gleichgeschlechtliche Liaison nicht übelnahmen, versteinerte der libertäre Stamokapler Scholz zu einem Opfer des somatischen Disziplinarregimes, als das Politik eben auch immer wirkt: Streng, glattgeschliffen, floskelbewehrt: „Wer von mir Führung verlangt, bekommt sie auch“ trumpfte er als Bürgermeisterkandidat an der Elbe auf. Auch dieses politische Urgestein schrumpfte nach vier finessenreichen Dekaden auf das für den sozialistischen Nachwuchs vorgesehene Format: Ein Kiesel im Malstrom der Demokratie.
Der berüchtigte Scholzomat eben. Was neben der rhetorischen Stanze auch meinte: Ein Mann, der sich selbst unter totaler Kontrolle und alle juristischen Regularien sofort bei der Hand hat. Höchstens noch bei Hintergrundgesprächen “unter vier” ironisch gluckst. Ein Mann, für den Fantasie offenbar ein Fremdwort ist. Sein Auftritt im Cum-Ex-Ausschuss demonstrierte, dass er es in Sachen Elefantenhaut und Pokerface mit dem republikanischen Polit-Reptil Mitch McConnell aufnehmen kann.
Dem man seinen Satz: “In Hamburg habe ich mich unsterblich in meine Frau verliebt” nicht recht abnehmen will, so maskenstarr er hinter dem heraufgedrehten Seitenfenster seiner Limousine ins Leere starrt. Kurzum: Ein Mann wie sein eigener Dienstwagen. Als Bundeskanzler fährt er passenderweise jetzt ein neues, besonderes sicheres Exemplar, das schussfeste Reifen hat, Sprengladungen oder einer Kalaschnikow trotzen soll.
Dass Olaf Scholz nach den Hamburger Jahren im blauen Business-Panzer nun den obersten Knopf seines blütenweißen Hemdes Gen-Gurion-mäßig aufgeknöpft hat und Respekt fordert, mag für eine Öffnung halten, wer will. Warum er sich im Laufe seiner politischen Karriere immer mehr geschlossen hat, hat er uns nie anvertraut. Dabei wäre es wichtig, diesem politsomatischen Kipp-Punkt auf die Spur zu kommen. Schon, um Kevin Kühnert oder Annalena Baerbock vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.
Aber die Pathologie des Politischen reicht tief, bleibt begraben im Geheimnis. Stumm schlägt sie sich im Körper nieder, im Habitus. Die fröhliche Angela Merkel der Wendezeit panzerte sich, wie der von ihr auf’s Altenteil geschickte Helmut Kohl, mit Leibesfülle und undurchdringlichen Zügen ins Matronenhafte. Nicht umsonst hat Franziska Giffey, die Weltmeisterin der scheinoffenen Fröhlichkeit, ihre 50er-Jahre-American-Suburb-Kostüme einmal ihre „Uniform“ genannt.
Fast liest sich da angesichts der vestimentären Selbst-Wappnung unseres politischen Personals die schaurige Zapfenstreich-Formel „Helm ab zum Gebet“ wie ein revolutionärer Slogan. Es gehört zu den Malaisen der politischen Kultur hierzulande, die Verhärtung der politischen Körper, die Verwandlung zum emotionsbefreiten Roboter als deren unausweichliche Nebenwirkung zu akzeptieren, statt sie als Krisenindiz zu thematisieren.
Eines der wenigen Gegenbeispiele lebt Claudia Roth, die frisch gebackene, grüne Kulturstaatsministerin. Die Goldparmäne des Widerborstigen stieg aus einem ähnlich politischen Milieu nach oben wie Scholz. Ohne dabei etwas von ihrer subversiven Energie und ihrem eruptiven Temperament zu verlieren. Mag sie heute auch noch so elegant und bourgeoisiekompatibel auf dem Grünen Hügel in Bayreuth auftauchen.
Repräsentiert Roth gleichsam den stets ausbruchsbereiten Vesuv des progressiven Lagers, wirkt der oft versteinert daherkommende Scholz wie dessen Pompeij: Das wilde Leben, das hier einst stattgefunden haben mag, ist nur noch durch eine Schicht erkalteter Sedimente zu erkennen.
Nun ist Graumäusigkeit der ästhetische Wesenskern der Demokratie. Und dürfte die Stimmung der „normalen, einfachen Menschen“, die Scholz kürzlich beschwor, eher treffen als die sarkastische Exzentrik Wowereit’schen Angedenkens. Wenn sich mit der steifen Gradlinigkeit und der hölzernen Rhetorik, mit der sich Scholz seinen Weg durch die Fußgängerzonen, Plenarsäle und Seniorenheime bahnt, nicht zugleich eine gewisse Friedhofsruhe breit machen würde.
Der Neukanzler sprach in seiner Regierungserklärung von einer „gigantischen Aufgabe“. Trotzdem heißt Berlin im Winter 2021: Kein Diskurs, nirgends. Und diese hermetische Mischung aus Führen durch Einschläfern wird nun als Erfolgsmodell verkauft. Gegen den „denkenden Redner“ Willy Brandt, den der Verleger Klaus Wagenbach einst bewunderte, wirkt sein Enkel, der auf den roten Wahlkampfplakaten kurz und bündig „Respekt“ verspricht, wie ein wortkarger Buddha.
Um die in ungewöhnlich großer Zahl ins Parlament gelangte Parteilinke zu zügeln, hat er ein paar soziale Wohltaten aufgetischt, um die Stammwähler zurückzuholen, die Hartz4 vergraulte. Den Koalitionspartnern hat er bedeutet, dass Wende-Essentials wie das Tempolimit oder das Wohnungseigentum nicht zur Debatte stehen.
Der Chef der Sozialdemokraten „im Hintergrund“ tritt auf wie eine Mischung aus dem „leitenden Angestellten“, als den sein Vorgänger Helmut Schmidt den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland GmbH einmal beschrieben hat, und dem fürsorglichem Belagerer aus dem Job-Center. Habituell gesehen repräsentiert Scholz das fleischgewordene Adenauer-Motto: Keine Experimente. Doch der Aufbruch zu einer anderen Gesellschaft kommt in einem anderen Körper daher.
Lassen sich mit Biennalen Gerechtigkeit und Demokratie befördern? Sieht man einmal von dem Kunstmessen-Abkömmling Venedig ab, befeuert diese geheime Hoffnung die rapide Biennalisierung der zeitgenössischen Kunstwelt in den letzten zwanzig Jahren von Gwangju bis Istanbul. Dürfen wir uns also auch Hoffnungen für das konservative Saudi-Arabien machen? Dort startete am Wochenende die erste Ausgabe dieses Erfolgsformats in der Hauptstadt Riad.
Diriyah-Biennale nennt sich diese Premiere nach einem, für seine traditionellen Lehmbauten bekannten Vorort Riads. Das klingt kulturbewusst, ist aber politische Strategie. Promotet wird die Biennale nämlich als „Eckstein“ der „Vision 2030“, die Kronprinz Mohammed bin Salman, der wahre Machthaber in dem religiösen Wüstenstaat, 2016 ausrief.
Die Idee dahinter: Kunst und Kultur sollen das Land unabhängig vom Erdöl machen. Eine neue „Unterhaltungs“-Behörde wurde mit einem Etat von 2 Milliarden Dollar ausgestattet. Der vierzig Jahre alte Kino-Bann wurde aufgehoben, Frauen durften erstmals Sport-Veranstaltungen besuchen, Pop-Konzerte mit Mariah Carey, David Guetta und Enrique Iglesias folgten.
Formal firmiert die Ad-Diriyah Stiftung, die die Biennale ausrichtet, als „Non-Profit-Organisation“. Ihr Etat kommt jedoch vom Kulturministerium, ihr präsidiert mit Prinz Badr bin Farhan al Saud der Kulturminister des Landes. Als CEO der Biennale fungiert Aya Al-Bakree, eine junge Kommunikationsexpertin, deren Familie Beobachter zu der loyalen Business-Elite Saudi-Arabiens zählen.
2022 soll eine Biennale für die Islamischen Künste folgen. Als Kurator für die Biennale konnten die Saudis einen diktaturgeprüften Kurator gewinnen: Den amerikanischen Kunsthistoriker Philip Tinari, seit 2011 Chef des Zentrums für Zeitgenössische Kunst in Peking (UCCA).
„Crossing the water and feeling the stones“ – Tinaris Slogan, der im China der 1980er Jahre den Geist der Transformation des Landes beschrieb, passt denn auch haarscharf zur Lage auf der Arabischen Halbinsel.
Ob sie es wollen, wissen oder nicht. Mit ihrer Teilnahme helfen die 64 eingeladenen Künstler:innen, ein Land reinzuwaschen, dessen politische und soziale Realität mit den hehren Zielen der Vision 2030 und dem Ziel der Biennale, den „kreativen Ausdruck“ zu fördern, nicht viel zu tun hat.
In Saudi-Arabien gelten Menschenrechte nur solange sie der Scharia nicht widersprechen. Eine Verhaftungswelle traf 2017 Hunderte Menschen- und Frauenrechtler:innen. 2019 wurden fünf Männer wegen homosexueller Handlungen öffentlich geköpft. Das Land hat den Jemen mit einem blutigen Krieg überzogen. Und der königliche Schirmherr der Künste wird persönlich für den 2018 mit einer Kettensäge ermordeten Journalisten Jamal Khashoggi verantwortlich gemacht.
Verständlich, dass sich Künstler:innen angesichts der Pandemie die wenigen Auftritte nicht entgehen lassen wollen. Wahrscheinlich deswegen ist Justin Bieber den Rufen nicht gefolgt, seinen Auftritt im Kulturprogramm der Formel-Eins-Premiere in Dschidda, noch einem Leuchtturm der Vision 2030, abzusagen. Nur der britische Rennfahrer Lewis Hamilton nannte die Zustände dort „absolut furchterregend“ und bestritt das Rennen mit einem Regenbogenhelm.
Es geht nicht um Boykott oder Canceln, aber gerade diese Biennale verdiente einen Streit zum Verhältnis von Kunst und Politik. Verstörend, dass von der sonst so gerechtigkeitssensiblen Kunstwelt bislang kein kritisches Wort zu ihr zu vernehmen war. Wie rechtfertigen der Bildhauer Wolfgang Laib, der Filmemacher Lawrence Lek und der Installationskünstler Timur Si-Qin, die als Künstler aus Deutschland in Riad gelistet sind, ihre Teilnahme an dem Event?
„Mir wölle bléiwen wat mer sin“ – die Inschrift an einem Erker an einem Bierhaus am Fischmarkt bringt die Idee Luxemburgs in nuce. Die Sentenz, mit der der Dichter Michael Lentz Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Einzug der Eisenbahn in Luxemburg reagierte, gilt als Wahlspruch des Ministaats.
Doch das Langweiler-Image des ländlichen Kleinstaats zwischen Frankreich, Deutschland und Belgien beginnt, sich zu ändern. Das zeigte dessen Art-Week Mitte November.
„Freigeister“ – das ist nicht gerade die Spezies, die man in dem Land vermutet, welches es sonst mit Steuerflucht, einem Premierminister unter Plagiatsverdacht oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in die Schlagzeilen schafft. Doch die gleichnamige Ausstellung im Museum für Moderne Kunst (Mudam), parallel zu dem Marketing-Event, demonstrierte eine angriffslustige luxemburgische Kunst-Szene.
Wie eine Parodie auf das Image Luxemburgs als das Bankschließfach der EU wirkte eine Installation der belgischen Luxemburgerin Aline Bouvy. Auf dem Bildschirm des in eine Museumswand eingelassenen Bankautomaten öffnet sich nach der Aufforderung, die Karte einzuführen, plötzlich ein Animationsfilm, in dem ein Anus Geld auszuscheiden beginnt.
Inspiriert von den Schriften der australischen Kultur- und Medientheoretikerin McKenzie Wark stellt das Mudam in seiner zweiten Großausstellung „Post-Capital“ zudem die ketzerische Frage: „Capital is dead: Is this something worse?“
Wie eine Anspielung auf den 2014 eröffneten Luxemburger Kunst-Freeport des Schweizer Unternehmers Bouvier liest sich Hito Steyerls Arbeit „Free Plots“: Ihre Installation aus Holztrögen nimmt die Grundrisse des erüchtigten Genfer Pendants auf, in dem ihre Werke einst gelagert waren. Sie hat sie von einer Luxemburger Garten-Gemeinschaft bepflanzen lassen.
Der eigentliche Herzschrittmacher der allgemeinen Szenebeschleunigung ist aber doch etwas Monetäres: Die Luxemburger Kunstmesse. Auf dem mit diesem Institut überreichlich bestücktem Benelux-Terrain, noch dazu kurz vor der Art Cologne, 80 Galerien und jedes Jahr rund 15.000 Besucher zusammen zu trommeln, ist schon ein kleines Kunststück.
Messegründer Alex Reding, Jahrgang 1971, Platzhirsch der Blue-Chip-Galerien am Ort, will mit dem kräftezehrenden Unternehmen Art Week die Stadt an die internationalen Kunstströme anbinden. Und er reagiert auf gewandelte ästhetisch-finanzielle Bedürfnisse.
„Das ist hier keine homogene Idylle mehr. 70 Prozent der 120000 Luxemburger stammen nicht mehr aus dem Land“ argumentiert Reding, eine formidable Mischung aus sarkastischem Unternehmer und ehrlichem Kunstenthusiasten.
Recht hat er: Die rund 170 in der Stadt versammelten Nationen machen den „schönsten Balkon Europas“ zu einer der diversesten europäischen Metropolen. Luxemburg verweist stolz auf das zweitniedrigste Pay-Gap zwischen den Geschlechtern. Mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Europas tun sich hier ungeahnte Schürfgründe für den Kunstmarkt auf.
Dieser reichtumsbefeuerte Kulturwandel ist auch der Grund für die Investitionen in Kunst und Kultur. Zur Eröffnung der neuen Kunsthalle in Luxemburgs Partnerstadt Esch, 2022 Kulturhauptstadt Europas, reagiert Gregor Schneider Anfang Oktober in dem umgebauten Möbelhaus mit zwanzig seiner surrealen Räume auf die Identitätsprobleme der Region im Übergang von Eisen und Stahl zur Postindustrie.
Die 7. Ausgabe der 2005 gegründeten Kunstmesse glich zwar auch in diesem Jahr über weite Strecken einem Gruselkabinett eines kunsthistorisch zwar anachronistischen, farbenfrohen Expressionismus. Eye-Catcher waren die großformatigen, erotischen konnotierten Ölbilder von Nguyen Xuan Huy, die die Erfurter Galerie Rothamel präsentierte.
Kristian Jarmuschek, Chef des Bundesverbandes Deutscher Galerien (BVDG), mit seiner Galerie ebenfalls Teilnehmer, wollte schon lange nicht mehr so viele nackte Frauenbrüste in Öl bei einer Messe gesichtet haben. Doch selbst in diesem feuchten Acrylparadies waren veritable Entdeckungen zu machen.
Messechef Reding präsentierte neben Stars wie Stefan Balkenhol, Venedig-Biennale-Siegerin Su-Mei Tse oder dem Kanadier Mike Bourscheid eine wunderbare Serie filigraner Zeichnungen des 1966 in Saarbrücken gestorbenen August Clüsserath zu erschwinglichen 2000 Euro. Gebrüder Lehmann aus Leipzig, eine von zwölf deutschen Galerien, präsentierten die abgründigen Bildwelten der Dresdnerin Beate Hornig.
Die Luxemburger Galerie Hessler konnte gar ein Werk von Simon Hantaï, einem der wichtigsten Vertreter der „konservativen Revolutionäre“ der 60erJahre in Frankreich, Freund von Max Ernst und Jackson Pollock und documenta-Teilnehmer 1959, anbieten: Kostenpunkt: 680.000 Euro.
Ausgerechnet dieser fröhliche Jahrmarkt gab dann aber doch ein Forum für politische Kunst ab. Nicht in Berlin oder New York, sondern im beschaulichen Luxemburg präsentierte die Singapurer Galerie Intersections die Ausstellung „Femmes En Resistance“ aus Myanmar.
Auf dem Ölbild der feministischen Malerin Chuu Way Nyein hocken drei Frauen fröhlich entschlossen auf einem Felsen: „Let’s fight the final battle“ ist auf einer der drei Fahnen zu lesen, die hinter ihnen im Winde wehen.
Messen und Art-Weeks – diese Booster-Impfungen des Kunstbetriebs, eignen sich auch als Kulisse für subversive Nadelstiche in’s amnestische Bewusstsein. Pünktlich zum Auftakt montierte das Kunstkollektiv Richtung22 in der Stadt Straßenschilder mit kolonialistischem Hintergrund wie Christoph Columbus oder Coudenhove-Calergi ab und entführte sie ins Museum.
„Da gehören sie hin. Museen haben ja auch sonst kein Problem mit Raubkunst“ rechtfertigte die Truppe ironisch ihre Aktion. Prompt erhielt das Casino, Luxemburgs Kunsthalle für’s absolut Zeitgenössische, die dafür einen Schauraum öffnete, von der Stadtverwaltung einen Strafantrag.
Das Haus flankiert mit seiner eigenen Schau „Stronger than memory and weaker than teardrops“ die kritische Stoßrichtung. Den Parcours zu Identität und Anderssein betreten Besucher:innen über einen roten Teppich wie beim Staatsbesuch. Links hängen in dem Korridor die Fahnen der 27 EU-Mitglieder, rechts die ihrer ehemaligen Kolonien. Decolonize! heißt es jetzt auch in Luxemburg.
So spiegelt die zeitgenössische Kunst eine schleichende Wende von Luxemburgs Selbstverständnisses von Retro zu Futuro. „Mir wëlle bléiwen, wat mir ginn“ hat Casino-Direktor Kevin Muhlen den von ihm kuratierten Beitrag seines Landes auf der Expo in Dubai im nächsten Frühjahr übertitelt. Was sich übersetzen ließe mit: „Wir wollen bleiben was wir werden“.
„Vergessen Sie für einen Moment mal die Kunst“. Der Satz rutschte Farid Rakun, einem der Gründungsmitglieder des indonesischen Kuratorinnen-Kollektivs ruangrupa so heraus, als er sich Ende letzten Jahres mit Journalisten über die kommende documenta unterhielt. Dennoch wirkt er wie eine Metapher für die 15. Ausgabe der Weltkunstschau, die am 18. Juni 2022 in Kassel eröffnen soll. Denn wenn etwas an den Entwicklungen im Vorfeld auffällt, dann ist es die Abwesenheit dieser Vokabel.
Wahlweise zerbrechen sich die Beobachterinnen der Schau den Kopf oder sie machen ihre Witze über das schöne Wort „lumbung“ – die berühmte Reisscheune, die vom konkreten, gemeinschaftlichen Speicherort für die Ernte in Südostasien inzwischen zu einem Synonym für das ersehnte Revival der Sozialressource Solidarität avanciert ist. Doch über Kunst im engeren oder weiteren Sinne spricht in Kassel kaum jemand.
Zu Beginn war dies der Pandemie geschuldet. Seit April dieses Jahres versucht nun das zwischen Indonesien und Deutschland gesplittete Kurator:innen-Kollektiv mit der digitalen Gesprächsserie „lumbung calling“ auf die Schau vorzubereiten. In den Gesprächen von Jumana Emil Abboud und Mirwan Andan mit internationalen Gästen zu Stichworte wie „Lokale Verankerung“, „Humor“, „Unabhängigkeit“, „Großzügigkeit“ oder „Transparenz“. Was das alles mit Kunst zu tun hat, war in den Gesprächen aber bestenfalls zu erahnen.
Ein Echo fanden diese Gespräche so wenig wie der Protest des „Instituto de Artivismo Hannah Arendt (Instar)“ gegen die Repressionen der kubanischen Regierung gegen Protestierende. Das kubanische Kollektiv um die Aktivistin Tania Bruguera ist „lumbung-Member“ der documenta fifteen. Auch das ins Sustainability-Mantra der Zeit passsende Symposium über nachhaltige Materialkreisläufe im Kunstbetrieb, zu dem Mitte Juli knapp 30 Initiativen nach Kassel kamen, hinterließ keine nennenswerten Spuren im öffentlichen Bewusstsein.
Und wie sich die insgesamt fünfzehn Kollektive vom Britto Arts Trust in Bangladesh bis zum Wajukuu Arts Project in Kenia, die das künstlerische Team als weitere lumbung-Member eingeladen hat, konkret in die Arbeit einbringen, ist im Dunkeln geblieben.
Mit ihrem „lumbung“-Ansatz könnte die documenta zum Katalysator einer Neuausrichtung des Kunstbetriebs unter dem Stichwort der Commons, der Gemeingüter, werden. Aber ob sich das aus dem undurchschaubaren Treiben allerlei Nachbarschafts-Initiativen entwickelt, das derzeit in dem, im bunten Design des Studierendenkollektivs Studio 2oo4 aus Jakarta geschmückten „ruru-Haus“ mit Mini-Garten, Regentonne und sogar einem eigenen documenta-Bier vor sich hin wuselt? Im Juli 2021 ging dort ein nationalkritisches „FussBallaBalla“ über die Bühne. Man vermisst einen Hinweis darauf, wie sich der ökosoziale Ansatz, den ruangrupa verfolgt, in eine ästhetische Dimension transformiert werden soll.
Neun Monate vor der Eröffnung fehlt der documenta erkennbar ein diskursiver Hallraum. Was in Kassel diskutiert oder vorbereitet wird, hat andernorts kein Echo. Zum selben Zeitpunkt gab es bei Carolyn Christov-Bakargievs d13 oder Adam Szymczyks d14 längst fette Debatten. Auch einen Verlag für die Publikationen der documenta fifteen gibt es noch nicht.
Kein Wunder also, dass der Streit um die NS-Vergangenheit dieses Vakuum füllte. Der Kölner Historiker Carlo Gentile hatte herausgefunden, dass Werner Haftmann an Partisanen-Erschießungen teilgenommen hatte, der Soziologe Heinz Bude, Gründungs-Direktor des neuen documenta-Instituts, und die Autorin Karin Wieland hatten seine SA-Mitgliedschaft aufgedeckt. „documenta – Politik und Kunst“ – die aktuelle Ausstellung des Deutschen Historischen Museums hatte weitere unschöne Details präsentiert.
So bleibt Beobachtenden derzeit nur documenta-Astrologie: Die kürzliche Nachricht, das aufgegebene Areal der Bahntechnik-Firma Hübner und das leerstehende Hallenbad Ost zu Standorten der Schau zu machen, könnte eine symbolische Hinwendung zur Peripherie bedeuten. Was dort zu sehen sein wird, lässt sich aber erst beurteilen, wenn Anfang Oktober die Namen der 53 Künstler:innen bekannt gegeben werden.
Diese Namen über die Kasseler Obdachlosenzeitung „Asphalt“ veröffentlichen zu lassen, war immerhin ein Coup, mit dem es dem Kurator:innenkollektiv gelang, die klassische Aufmerksamkeitsökonomie von Kunst-Großaustellungen zu unterlaufen, bei der meist in großen Medieninszenierungen die Namen einer staunenden Öffentlichkeit bekannt gemacht werden.
Und auch die Tatsache, dass Künstler:innen wie Graziele Kunsch, Jimmy Durham oder Pinar Ögrenci jeweils „majelis“ – kleinere oder größere Arbeitsgruppen – zugeordnet werden, um dort durch „Ressourcenteilung und gemeinsame Entscheidungsfindung“ künstlerische Arbeitsweisen oder Produkte zu entwickeln, die zur Zeit noch nicht feststehen, zielt in diesselbe Richtung.
Immerhin: Die insgesamt geringere Zahl von Teilnehmenden signalisiert, dass sich die Kunstwelt auf eine bescheidenere Schau einstellen muss, die aufgrund der Sicherheits- und Hygienebestimmungen umständlicher zu absolvieren sein dürfte.
Dass die documenta bereit ist, sich deswegen von dem olympischen Grundsatz des „citius, altius fortius – schneller, höher, weiter“ zu verabschieden, der sie bisher antrieb, wie es Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) Anfang Juli formulierte, als die Aufsichtsgremien entschieden, die documenta trotz der Pandemie nicht zu verschieben, muss kein Nachteil für eine Schau sein, die in dem Ruf einer Cash-Cow des nordhessischen Standortmarketing steht und deren Sinnkrise sich nach den NS-Enthüllungen verschärft hat.
Bislang deutet allerdings wenig darauf hin, dass sie ihre sympathische Wende zum „Degrowth“ mit einem Mehr an Qualität kompensieren will.
Akademiker in blauen Talaren, aufgereiht in einem stummen Gruppenbild im Garten der Istanbuler Boğaziçi-Universität. Seit über sechs Monaten bietet sich am Bosporus das gleiche Bild.
Der Lehrkörper der renommiertesten Universität des Landes stemmt sich gegen seinen Rektor: Demonstrativ kehren sie dessen Büro auf dem Campus den Rücken, an heißen Tagen mit Sonnenschirm. Die sozialen Medien sind voller Bilder des friedlichen Protestes.
Angefangen hatte alles am Neujahrstag 2021. Damals hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan überraschend einen Mann namens Melih Bulu zum neuen Rektor ernannt. Ein Vorgang mit Symbolcharakter. Denn die 1863 unter dem Namen Robert-College als erste amerikanische Universität außerhalb der USA gegründete Hochschule hat den Ruf einer liberalen, weltoffenen Eliteuni mit hohem akademischem Standard.
Kein Wunder, dass sich Lehrkörper und Studierende gegen einen Mann wehrten, der als treuer Parteisoldat Erdogans galt und unter Plagiatsverdacht stand. Auch massiver Polizeieinsatz, der Austausch der Schlüssel oder die Ernennung linientreuer Dekane brachte die Universitätsangehörigen nicht von ihrem Protest gegen den „Zwangsverwalter“ ab – eine Anspielung auf die Staatskommissare, mit denen Erdogan die oppositionellen Bürgermeister im Osten des Landes ersetzt hatte.
„Er wird gehen, wir bleiben!“ hieß einer der Slogans. Schließlich hatten die Protestierenden Erfolg. Der sonst unnachgiebige Präsident ließ am 15. Juli den ungeliebten Rektor plötzlich fallen. Doch die Rache folgte auf dem Fuße. Als erste Amtshandlung entließ der Physiker Naci İnci, neuer kommissarischer Rektor, den Filmemacher Can Candan.
Der Dokumentarfilmer lehrt seit 2007 an der Boğaziçi Medien und Filmtheorie. Der LGTBQ+-Aktivist ist Regisseur der drei preisgekrönten Dokumentarfilme: „Duvarlar – Mauern – Walls“ (2000), „3 Saat“ („3 Stunden“, 2008) und „Benim Çocuğum – Mein Kind“ (2013). Als Chronist des Protestes postet er jeden Tag das aktuelle Standbild vor dem Rektorat.
„Was wir fordern, ist legitim, gerecht und dient dem Gemeinwohl“, hatte der 52-jährige im taz-Interview im März klargestellt. Nun soll Candan für die eigentlich nicht vorgesehene Niederlage Erdogans büßen. Der vorgeschobene Grund des Rektors: Er habe sein Stundendeputat nicht erfüllt und Kolleg:innen beleidigt.
„Wir stehen in Solidarität mit dem unfair entlassenen Filmemacher und Akademiker Can Candan, den Studierenden der Boğaziçi-Universität und den Fakultäten in ihrem Kampf um akademische Freiheit und Autonomie“ schreiben Kulturwissenschaftler:innen wie die Filmprofessorinnen Jane Ganes von der New Yorker Columbia-Universität, Susana de Sousa Dias von der Universität Lissabon oder der Künstler Aykan Safoğlu aus Wien.
Das hat Erdogan von seiner Racheaktion: Die Uni-Schlacht am Bosporus weitet sich jetzt zu einer globalen.
Die „Göttin der Gerechtigkeit“ als schwarzer Racheengel. Einfach eine ganz normale Biennale konnte Bonaventure Ndikung im niederländischen Arnhem Anfang Juli natürlich nicht eröffnen. „Labour-Arbeit“ hatte er ursprünglich als Thema gewählt. Doch das Postkoloniale hat der Kurator der 12. Sonsbeek-Biennale, benannt nach einem Park der Hauptstadt der Provinz Gelderland, dann doch zu sehr in der DNA.
Mit seinem 2009 in Berlin gegründeten Kunstraum Savvy Contemporary wurde er zum Pionier dieses Ansatzes nicht nur in der dortigen Kunstszene. Und die kolonialen Spuren finden sich in dem einstigen Angelpunkt des niederländischen Kolonialreichs an jeder Ecke. Deswegen stehen die Besucher:innen in einem alten Portierhäuschen plötzlich vor einer Statue der nigerianischen Künstlerin Ndidi Dike mit dem ehrfurchtheischenden Titel. Diese Justitia ist freilich schwarz. In ihrer rechten Hand trägt sie eine Machete, in ihrer linken trägt sie eine schiefe „Waage der Gerechtigkeit“.
Arbeiten wie diese hatte Ndikung natürlich schon Monate vor seiner überraschenden Ernennung zum neuen Intendanten des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin ausgewählt. Dennoch meinte man In dem Parcours nun vor allem die Handschrift desjenigen zu erkennen, der ab dem 1. Januar 2023 eine der wichtigsten deutschen Kulturinstitutionen leiten wird.
Dass er sein neues Haus aber nicht zum Kolonialismus-Tribunal umfunktionieren will, machte er in Arnhem auch deutlich. Wieder und wieder wies er auf die Gründungsidee der Sonsbeek-Biennale hin. Schon 1949, sechs Jahre vor der documenta gegründet, sei es in der im 2. Weltkrieg schwer zerstörten Stadt um „Versöhnung“ gegangen, darum, mit Hilfe der Kunst die Gesellschaft zu heilen. „Wir sind alle gemeinsam in dieser Geschichte“ stellt er in einer improvisierten Ansprache klar. „Es geht darum, den Prozess der Re-Humanisierung einzuleiten“.
Die überraschende Ernennung des 1977 in Yaoundé in Kamerun geborenen Ndikung lässt sich kaum anders als kulturpolitisches Signal verstehen. Mit ihrer Personalentscheidung konterte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) die nicht endende Kritik an dem diffusen Konzept des vermurksten Humboldt-Forums mit Kreuz auf dem Dach und weißem Intendanten an der Spitze.
Doch abgesehen von der Frage, ob sie damit nicht zwei ähnlich aufgestellte Institutionen in eine unproduktive Konkurrenz treibt. Es fragt sich auch, ob der Mann wirklich der Richtige für die Aufgabe ist.
Für Bonaventure spricht sein ausgeprägtes Diskurs-Interesse. Seine Texte und Statements kommen meist wie schwere philosophische Manifeste daher. Die Manager-Fähigkeiten des Hardcore-Intellektuellen sind aber nicht zu unterschätzen. Dass er sein Savvy Contemporary von einem Ladenlokal in Neukölln über diverse Zwischenstationen schließlich in ein ansehnliches Haus im Wedding und sich selbst hernach an die HKW-Spitze hieven konnte, zeugt von beachtlichem Planungs-, Fundraising- und Vernetzungsgeschick.
In diesem unbedingten Glauben an die Kraft der Kunst (und an sich selbst) ähnelt er einem anderen Quereinsteiger – dem Kunst-Werke- und Berlin-Biennale-Gründer Klaus Biesenbach. Auch der ehemalige MoMA-Kurator und heutige Chef des MOCA in Los Angeles kam als Quereinsteiger zur Kunst. Biesenbach begann als Mediziner, Ndikung ist promovierter Biotechnologe.
Mit seiner Arbeit als Kurator bei den Biennalen in Sonsbeek, als „Curator at Large“ bei Adam Szyczymks documenta 14, bei der Fotografie-Biennale in Bamako in Mali und der Dak’Art in Dakar im Senegal hat sich Ndikung nebenbei auch auf dem internationalen Parkett einen Ruf als erfolgreicher Kurator und Ausstellungs-Macher erworben.
Seinen mitunter etwas akademischen „approach“ kann er an der Kunsthochschule Weißensee ausleben. Seit dem November 2020 teilt er sich dort mit dem Künstler Nasan Tur die kommerzielle Professur im Studiengang „Raumstrategien“.
Diese transdisziplinären Fähigkeiten wird er am HKW brauchen können. Seine aktivistische Energie, gepaart mit einem überbordenden Enthusiasmus für Ästhetik, Poesie und vor allem Musik könnten dem Haus, das nach den Erfolgen des scheidenden Intendanten Bernd Scherer mit Projekten wie „Anthropozän“- und „Forensic Architecture“ zuletzt etwas lahmte, neuen Schwung verleihen.
Doch von Kunst und Postkolonialismus allein wird dieser Kulturtanker mit seinem jährlichen Neun-Millionen-Etat nicht leben können. Und ob der Bottom-Up-Ansatz, den Ndikung anstrebt, wenn er, wie er nach seiner Ernennung erklärte das „Gaswurzelumfeld“ und das „migrantisch situierte Wissen“ von über 190 in Berlin lebenden Nationen „in das neue Haus“ einladen will, in dem staatlichen Repräsentativkörper, der das HKW eben auch ist, funktioniert, wird sich zeigen. Sollte es ihm gelingen, wäre auch das eine „Versöhnung“.
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Was bedeutet eigentlich die Imprägnierung der documenta durch den Nationalsozialismus? Seit den Enthüllungen zu den NS-Verstrickungen einiger Gründerväter der 1955 von Arnold Bode gegründeten Weltkunstschau steht die Kunstwelt vor den Trümmern eines Mythos.
War das vielgerühmte Bekenntnis zur Moderne bloß inszeniert? Versuchten sich die documenta-Macher damit von ihrer eigenen Schuld reinzuwaschen? Und was bedeutet das für die Zukunft der Schau?
Eine endgültige Antwort auf diese Fragen fand auch die Hybrid-Tagung „Opfer oder Täter? Thesen zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Kuratoren der ersten documenta“ letzten Freitag nicht. Mit der Konferenz der Kasseler Kunsthochschule und des documenta-Archivs versuchte vielmehr das Kunstestablishment dort den Eindruck zu zerstreuen, in der documenta-Stadt würde nicht genug getan, den brisanten Komplex selbst aufzuarbeiten.
Die NSDAP-Mitgliedschaft des documenta-Chefideologen Werner Haftmann hatten der Oxforder Historiker Bernhard Fulda und Julia Friedrich vom Kölner Museum Ludwig herausgefunden. Bei der Aufarbeitung der politischen Geschichte kam der documenta das Deutsche Historische Museum (DHM) zuvor, als es 2019 eine Ausstellung dazu ankündigte.
Haftmanns SA-Mitgliedschaft hatte der Berliner Soziologe Heinz Bude und seine Frau, die Schriftstellerin Karin Wieland, kürzlich auf eigene Faust recherchiert. Da blieben den Diskutierenden, die der Kunstprofessor Kai-Uwe Hemken und Birgitta Coers, seit Oktober 2020 Direktorin des documenta-Archivs, eingeladen hatten, nicht viel mehr, als Detailfragen.
Christian Fuhrmeister vom Münchener Zentralinstitut für Kunstgeschichte konstatierte den „Einbruch der Zeitgeschichte in das Refugium der Ästhetik“. Mit dem Kunsthistoriker Eckhard Gillen stritt er sich darüber, ob Haftmanns Idee einer gemäßigten Moderne aus den dreißiger Jahren, aus der nach Gillen die documenta 1 formte, nicht doch völkische Untertöne beherbergte.
Heinz Bude wiederholte seine schon andernorts ventilierte These von Werner Haftmann als Protagonist der „militanten Moderne“. Ratlos stand der Kasseler Kunstprofessor Alexis Joachimides vor der Diskrepanz zwischen der Freiheits- Rhetorik des späteren Kunstpublizisten Werner Haftmann und seiner Rolle im NS-System wenige Jahre zuvor.
Keiner Reflexion wert war den Teilnehmern, dass der Kölner Historiker Carlo Gentile jüngst belegt hatte, dass Haftmann während seiner Kriegszeit in Italien an Erschießungen von Partisanen teilgenommen hatte (SZ vom 6.6.2021).
Vor dem Hintergrund dieses weiteren, erschütternden Fundes mutete die Mahnung des Berliner Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz oder von Thomas Rudert von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die Rolle einzelner Protagonisten der documenta nicht allein an ihrer Mitgliedschaft in NS-Organisationen zu festzumachen, seltsam zurückhaltend an.
Stattdessen war ständig von der „Komplexität“ der Situation die Rede und davon, dass es die „Ambivalenz“ der Biographien der an den ersten documenta-Schauen Beteiligten auszuhalten gelte.
Und lässt sich zwischen der Biographie und dem Werk von Kuratoren ein ähnlicher Trennstrich ziehen wie bei Künstlern? Diese Frage warf Justus Lange, Leiter der Kasseler Gemäldegalerie Alte Meister auf. Sarkastisch gewendet: Bis zu wieviel Todesbefehlen gilt das ästhetische Oeuvre eines ehemaligen NS-Mitläufers und späteren Museumschefs als unbelastet?
Wenn es womöglich „weitere Phänomene dieser Größenordnung gegeben hat, von denen wir keine Kenntnis haben und vielleicht auch nie Kenntnis haben werden“, wie Christian Fuhrmeister dem Autor sagte, wäre die naheliegendere Forderung vielleicht gewesen, den Komplex biografische Verstrickung mit noch größerer Vehemenz aufzuarbeiten.
Andererseits hatte auch Nanne Buurman Recht, wenn sie vor der Entlastungsfunktion dieser (notwendigen) Forschung warnte: „Es reicht nicht“, sagte die Kasseler Kunstwissenschaftlerin, „nur mit dem Zeigefinger auf alte, weiße Nazis zu zeigen. Wir müssen auch unsere Praxen heute befragen. Es gibt ja immer noch Antisemitismus und Nazismus“.
Warten wir es ab. Vielleicht knackt ja die DHM-Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ in Berlin ein paar der ungeknackten Kopfnüsse der Kasseler Tagung, die auch prototypisch für die Schwierigkeiten der verspäteten Erinnerungsarbeit steht.