Not macht erfinderisch – dass der Satz nicht nur ein blöder Spießerspruch ist, der Bescheidenheit lehren soll, dämmerte mir in irgendeiner Sommernacht, als ich mit Freunden auf der Admiralbrücke saß und ein paar emsigen türkischen Seniorinnen mit Hackenporsche zusah, die die leeren Flaschen einsammelten, die die ultralegere Meute ringsherum demonstrativ desinteressiert auf dem Bordsteinpflaster aufreihte.
Fasziniert von der Zeugenschaft beim Entstehen einer primitiven Kreislaufwirtschaft mit Nachhaltigkeitseffekten, eine Art performativer Feldversuch in primärer Akkumulation, nahm ich auf dem Nachhauseweg einfach mal alle Flaschen mit, die unmittelbar am Wegesrand standen und für die ich nicht im Gebüsch stochern oder mit der Taschenlampe in Müllbehälter leuchten musste.
Gut, es war eine warme Nacht. Wahrscheinlich waren es deswegen unglaubliche 19 Bierflaschen, etliche Club-Mates und Fritz-Kola und zwei Plastikflaschen XL Coke. Meine Mutter hatte doch recht: Das Geld liegt auf der Straße. Zum Glück sah mich niemand im Treppenhaus mit dem Flaschengold. Der Pfanderlös am nächsten Tag reichte für einen Cappuccino in der Espressolounge.
An diesen Selbstversuch habe ich mich vermutlich erinnert, als ich nach dem Beginn des Coronozän mitternächtliche Spaziergänge aufnahm. Es lädierte zwar den Habitus des melancholischen Late-Night-Existenzialismus, mit dem ich der Krise zu trotzen gedachte, als ich mich verstohlen bückte, und nach ein paar Flaschen griff, die an den Ausgängen der Columbia-Halle stehen geblieben waren. What the fuck? Wollte ich meine Misserfolge beim Klopapier-Hamstern damit kompensieren? Oder macht Not eben doch anfällig? Egal, dachte ich: Was man hat, hat man.
In schlechten Zeiten können auch ein paar Pfandflaschen nicht schaden. Plötzlich war der nächtliche Catwalk in weitem Bogen um den menschenleeren Kiez nicht nur das pflichtschuldig absolvierte Bewegungsminimum, sondern folgte einem höheren Sinn: Ich sammle. Je weiter ich lief, desto mehr staunte ich, wie wenig das rigide Berliner Kontaktverbot der Kulturtechnik des dislozierten Wegebiers etwas anhaben konnte.
Kaum ein Hauseingang, ein Schaufenster, eine Bushaltestelle, an dem sich nicht eine, eher zwei halbvolle Flaschen fanden. Was war hier los? Wo kamen die alle her? Feierten die immer noch alle ihre Corona-Parties? Sollten die nicht längst alle in der Quarantäne-Hölle schmoren?
Beim S-Bahnhof Yorckstraße hatte ich schon neun Bierflaschen und eine Coladose in der aus einem Dornenstrauch geklaubten Plastiktüte von Netto. So etwas wie Gier überkam mich. Plötzlich war nicht mehr der Weg das Ziel, sondern das herrenlose Leergut. Kein gläserner Rest war jetzt mehr vor mir sicher.
Schon von weitem meinte ich die Lichtreflexe versteckter Flaschenkörper schimmern zu sehen. An einem schummrigen Späti guckten die beiden Kämpen, die vor der Tür ein verbotenes Bier zischten, unsicher, als ich ihre fast leeren Flaschen mit einem Glitzern in den Augen taxierte.
Nur der Rollenwechsel vom Prekariat zum Lumpenproletariat wollte nicht recht funktionieren. Bei jedem Passanten tat ich betont unauffällig und versuchte die verräterisch klirrende Plastetasche in eine stabile Seitenlage zu bugsieren. Wenn ein Gassi-Geher samt Vierbeiner in Sichtweite einer Flasche herumbummelte, vertiefte ich mich in’s Smartfon, bis die Bahn frei war. Ich bin ja kein Flaschensammler, ich sammle nur!
Meine Profi-Kollegen, die mit dicken Taschen auf dem Fahrrad ungeniert systematisch vorgingen, mied ich. Nur am Viktoriapark ließ ich mich verleiten, einem Weg ins Dunkle zu folgen. Schließlich thronte auf einem verschmierten Papierkorb eine fette Fünfer-Corona Berliner Pilsener. Ich hatte schon die Hand ausgestreckt, als plötzlich hinter einem Busch die Scheinwerfer eines blauen Autos mit sieben silbernen Buchstaben aufblendeten.
„Bitte halten Sie Abstand. Damit wir
uns bald wieder nah sein können“. So oder ähnlich lauten die Warnhinweise
überall auf der Welt derzeit. Und wenn sie nicht so drängend konkrete Gründe
hätten, könnte man derlei Slogans für ein grandioses Experiment in höherer Dialektik
halten, so wie die Menschheit gerade auf ein Paradox eingeschworen wird:
Füreinander einzustehen, ohne sich dabei begegnen zu können.
Gut, Solidarität drückt sich nicht
immer in körperlicher Nähe aus. Sozialer Beistand kann auch bei räumlichem
Abstand geleistet werden. Unser Sozialstaat ist institutionalisierte
Solidarität. Und der berühmte Generationenvertrag, der ihm zu Grunde liegt, ist
ein Abstraktum und kein massenhaft absolvierter Rütlischwur unter freiem Himmel.
Trotzdem wuchs Solidarität aus dem
Zusammenschluss realer Körper, der gerichteten Kraft assoziierter Individuen.
Vom Sturm auf die Bastille bis zum Arabischen Frühling. Auch wenn sie
inzwischen Rituale sind.
Die Maidemonstrationen, die an die
Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts erinnern, können die Video-Solidaritätsadressen
nicht ersetzen, die heute selbst bei revolutionären Protestversammlungen gang
und gebe sind. Keine Kunst, keine Kultur, keine Solidarität ohne volle Säle,
ohne Menschen, die sich auf die Pelle rücken.
Ob die Corona-Krise den
Neoliberalismus gekillt haben mag, wie jetzt überall gejubelt wird, wird sich
zeigen. Immerhin hat sie das Dogma des deregulierten Staates ad absurdum
geführt. Unübersehbar hat sie deutlich gemacht, dass Solidarität heute etwas ist, worauf
alle angewiesen sind.
Sie ist ein
Paradebeispiel für dieses langsame Wiedererwachen eines Gefühls wechselseitiger
Abhängigkeit: Von den Gabenstellen für Obdachlose bis zu den Einkaufsdiensten
für betagte NachbarInnen.
Ganz neu ist
das nicht: Die Renaissance der neuen Solidarräume, die schon in den letzten
Jahren zu erleben war, reklamiert diese freilich nicht nur als Idee. Die neuen Genossenschaften,
Lerngruppen und urbanen Kooperativen – wollen diese Räume immer mit realen
Menschen füllen, nicht nur eine coole App draus machen.
Sieht man davon ab, dass Abstand
halten ein soziales Privileg ist. Nicht jede New Yorker Krankenschwester kann
sich in ihr Landhaus in den Hamptons zurückziehen. Es stimmt natürlich trotzdem:
Abstand halten rettet Leben, Abstand halten schafft Zusammenhalt.
Die Appelle von Krankenschwestern und
ÄrztInnen aus Italien erinnern schmerzlich daran. Und die Balkonkonzerte in Italien und
anderswo zeigen: Es lässt sich auch über Distanz soziale Nähe herstellen.
Das freilich
wäre das richtige Wort. Denn nur die physische Distanz schützt vor Ansteckung. Aber
auf diese Nähe, die erst Gemeinschaft schafft, wollen wir gerade jetzt nicht
verzichten. Sie erst gibt uns das Gefühl, dass wir nicht ganz alleine auf der
Welt sind.
Genies der Selbstisolation wie
Nietzsche und Hölderlin, die in der Krise plötzlich zu Prototypen der
Quarantäne-Ära stilisiert werden, sind in Wahrheit eine wenig nachahmenswerte
Ausnahme. Die Sozialdistanz, die sie praktizierten, war ja mehr traumatisch als
prophetisch.
Unter diesem Stichwort wird jetzt eine
zwiespältige habituelle Praxis eingeübt. Nicht nur weil mit dem Begriff auch das
neoliberale Ideal der Selbstsozialisation aufgerufen wird, für das, frei nach
Margaret Thatcher, „no such thing as society“ existiert.
Sie prägt eben auch das Verhalten. Mensch
erschrickt bei mehr als zwei Personen auf der Straße, schreckt zurück, wenn
jemand die Tür offenhält, geht auf Abstand, sobald sich jemand nähert. Vorsicht
und Misstrauen dem unmittelbaren Gegenüber, so notwendig sie eine Zeit lang auch
sein mögen, werden zur Gewohnheit.
Doch was passiert mit Menschen, die
ihre Sozialkontakte wochenlang um 97, 98 Prozent herunterfahren? Die Menschenketten
gegen den neuen Faschismus nur noch online bilden dürfen? Was mit Menschen, die
auf ein Verhalten „ohne jede Form von Gruppenbildung“ konditioniert werden? So
lautet das amtliche Berliner Distanzgebot.
Was, wenn es nach der Krise heißt: „Zu
Kurz Gekommene Aller Länder, Vereinigt Euch“. Sich dann aber niemand mehr
richtig solidarisieren kann? Weil kaum noch einer weiß, wie es geht?
„Distanz ist die erste Bürgerpflicht“
verklärte eine deutsche Tageszeitung eine epidemiologische Vorsichtsmaßnahme
zum kategorischen Imperativ.
Je länger der Ausnahmezustand namens „Sozialdistanz“
dauert, desto größer auch die Gefahr, dass die Nah- und Kollektiverfahrung
Solidarität auf der Strecke bleibt. In Zeiten der Krise lernt der Mensch. Wir
erleben es gerade. Er kann aber auch viel verlernen.
203 Porträtfotos an einer Wand: Nazi-Größen wie Goebbels und Goering hängen neben unbekannten Flakhelfern oder dem Künstler Joseph Beuys. Vor drei Jahren provozierte Piotr Uklanskis Arbeit „Real Nazis“ die Besucher der documenta in Kassels Neuer Galerie mit der Frage: Welche waren eigentlich die wirklichen Nazis? Die großen Schergen oder auch die unbekannten Mitläufer?
Nachgerade wirkt Uklanskis Werk prophetisch. Denn jetzt hat diese Frage die Weltkunstschau selbst eingeholt. Waren etwa einige der documenta-Gründerväter etwa „real“ Nazis?
Begonnen hatte alles Anfang 2019. In einer Fußnote des Katalogs der Schau „Emil Nolde – Der Künstler im Nationalsozialismus“ in Berlins Hamburger Bahnhof hatte Kurator Bernhard Fulda, Historiker in Cambridge, erstmals auf die NSDAP-Mitgliedschaft Werner Haftmanns hingewiesen. Der Kunsthistoriker war der wichtigste Berater von documenta-Gründer Arnold Bode während der ersten drei Ausstellungen.
Wenige Monate später verschärften Fulda und die Kunsthistorikerin Julia Friedrich vom Museum Ludwig ihre kritische Sicht der „grauen Eminenz“ der documenta auf einer Konferenz des Deutschen Historischen Museums (DHM) zur „Politischen Geschichte der documenta“. Sie verwiesen auf einen Aufsatz Haftmanns in der NS-Zeitschrift „Kunst der Nation“, in dem dieser den Nazis 1934 den Expressionismus als von „deutscher Art“ anpries.
Nach 1945 verbuchte er ihn als Medium europäischer Verflechtung. Den Nazi-Sympathisanten und Antisemiten Emil Nolde adelte Haftmann zu einem der inneren Emigranten, die sich im Dritten Reich angeblich wie die „Lilie vom Felde“ nährten.
Dass die politische Vergangenheit der documenta-Gründergeneration erst jetzt entdeckt wurde, stellt dem Kunstbetrieb in Deutschland ein Armutszeugnis aus. Die NS-Nähe von documenta-Protagonisten der ersten Stunde wie Hermann Matern, Herbert von Buttlar oder Alfred Hentzen war schon länger bekannt.
Auch zu Haftmann gab es seit den siebziger Jahren Hinweise. Zu einer systematischen Durchleuchtung bequemte sich die deutsche Kunstgeschichte aber nicht, geschweige denn zu einem Diskurs.
Die Enthüllungen markieren eine unerwartete neue Etappe deutscher Vergangenheitsbewältigung. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier setzte dieser Tage eine Historiker-Kommission ein, um die NS-Kontinuitäten im Bundespräsidialamt zu untersuchen. Ein Hobbyhistoriker enttarnte Alfred Bauer, den Gründungsdirektor der Berlinale, als alten Nazi. Jetzt haben die braunen Schatten auch die documenta eingeholt.
Im Licht der jüngsten Erkenntnisse erscheint das Selbstverständnis der Schau als Gestalt gewordener Beweis deutscher Umkehr, als Flaggschiff des besseren Deutschland, als Motor der Wiedergutmachung gegenüber Verfemten, „Entarteten“ und der Moderne schal. Denn das documenta-Narrativ war auch ein taktisches Kalkül zur Selbstreinwaschung, Verschleierung und zur Abwehr der Vergangenheit.
Mag sich die documenta auch zu einer Schau der kritischen Weltsicht entwickelt haben. Der Mythos der documenta gründete immer auf der ethischen und ästhetischen Integrität ihrer Gründer. Nun ist er beschädigt.
Die jetzigen Enthüllungen treffen die Schau zur denkbar ungünstigen Zeit. Die Diskussion darum wird nicht nur die Arbeit des Kuratoren-Kollektivs Ruangrupa überschatten. Nach den Querelen um die documenta 14 sollte die Weltkunstschau eigentlich in eine neue Phase starten.
Mit einer neuen „documenta-Professorin“, der Übernahme des documenta-Archivs, einem neuen, mit sechs Millionen Euro üppig alimentierten „documenta-Institut“ und dem neu besetzten Fridericianum, wächst das früher bescheidene documenta-Büro zu einem ästhetisch-bürokratischen Komplex mit einer „Generaldirektorin“ an der Spitze, der sein Eigengewicht gegenüber der eigentlichen Schau entwickeln dürfte. Nun muss sie sich auch noch mit ein paar alten Nazis herumschlagen.
In der Zangenbewegung zwischen Institutionalisierung und Historisierung hilft der documenta nur die Offensive. Ihre Erfolgsgeschichte sichert sie, wenn sie ihre Geschichte kritisch aufarbeitet. Diese Selbstbefragung sollte sie von sich aus anstoßen. Sie ist nämlich keine historiographische Pflichtübung, sondern eine eminent politische Aufgabe.
Die documenta kann sie weder an die Ausstellung zur documenta-Geschichte des DHM delegieren, die im Frühjahr 2021 eröffnen soll, noch an das documenta-Institut. Der Superlativ „Weltkunstschau“ verpflichtet. Zusammen mit Zeitzeugen, Künstlern und Wissenschaftlern muss die documenta eine breite öffentliche Debatte anstoßen.
In Zeiten des grassierenden Rechtsextremismus wäre sie ein Zeichen dafür, dass sie die Frage nach dessen Ursachen ernst nimmt. Je rascher sie beginnt, desto besser.
„Ich verstehe“. Den Satz sagt Queen Elisabeth immer dann, wenn sie mehr ahnt, als versteht. Aber so tun muss, als ob. Wenn ihr der Premierminister eine internationale Krise ankündigt, eine drohende Kabinettsintrige. Oder wenn ihr Privatsekretär ihr vorsichtig beibringen muss, dass Prinz Philipp in eine delikate Affäre verwickelt ist, die das Königshaus und die royale Ehe kompromittieren könnte. Sie strafft den Rücken, rückt den Kopf gerade und nimmt Haltung an wie ein energischer Wellensittich.
Wenn jemand eine Möglichkeit gesucht
hätte, der britischen Monarchie den Todesstoß zu verpassen. Die Pose erhabener Ratlosigkeit,
in die sich Regisseur Stephen Daldry Ihre Majestät Königin Elisabeth II. alias Claire
Foy alias Olivia Colman in Peter Morgans Netflix-Seifenoper „The Crown“ retten
lässt, wäre eine solche. Diese Königin wider Willen wirkt wie die Karikatur von
Lenins Diktum, dass jede Köchin in der Lage sein müsse, die Staatsmacht
auszuüben.
Folge um Folge bestätigt die überaus erfolgreiche
Serie unser Vorurteil von dem englischen Königshaus als skurriles
Paralleluniversum mit defizitärer Führungskompetenz. Während Großbritannien
durch eine schwere Wirtschaftskrise taumelt, ist die Königin mehr an der
Innovation ihres eigenen Unternehmens interessiert.
Mit ihrem Busenfreund und Stallmeister,
dem 7. Earl von Carnavaron, genannt „Porchey“, verschwindet sie auf eine „fact-finding-mission“
in Sachen Pferdezucht nach Frankreich und in die USA. Und als 1957 die
Suez-Krise ausbricht, beschäftigt sie vor allem das Foto einer Ballerina,
welches sie in einer Reisetasche ihres Mannes gefunden hat. So konsequent wie
sie auf die Binnenperspektive setzt, zeigt „The Crown“ die Welt, vom Palast aus,
gesehen.
Als Elisabeth 1953 gekrönt wurde,
durfte der sublime Moment der Salbung mit dem heiligen Öl, von dem es im
Buckingham Palast noch einen Rest geben soll, den Augen der Gäste in der
Westminster Abbey mit einem Baldachin entzogen. In der Serie erscheint dieses
göttliche Institut aber als durchaus anfällig für irdische Untugenden. Wie die
Hohenzollern haben auch die Windsors in Gestalt Ihres eitlen Protagonisten, dem
abgedankten König Eduard VIII., mehr als nur mit den Nazis geliebäugelt.
Die Binnenperspektive sagt auch etwas
aus über die eingeschränkte Wahrnehmung der Macht. Wie viele Tage dauert es,
bis Elisabeth begreift, dass sie auf das schwere Bergwerksunglück 1966 im
walisischen Aberfan mit einem raschen Besuch hätte reagieren müssen? Mag sie
auch als PR-Coup eingefädelt worden sein. Angesichts dieser Geburtsfehler des Palastlebens
gewinnt der Exit von Harry und Meghan Sussex aus dem royalen
Wahrnehmungsgefängnis den Charakter einer exemplarischen Befreiungstat.
„The Crown“ ist freilich auch eine melancholische
Entwarnung vor der Renaissance der Willkür des Gottesgnadentums. Entrollt sich
doch vor unseren Augen das Drama des Machtverlustes – bei gleichzeitiger
Aufrechterhaltung der symbolischen Oberhoheit.
„Wir sind Marionetten geworden“ beklagt
Queen Mom Elisabeth mit verbitterter Miene den schleichenden Tod der Monarchie,
kurz bevor ihre Tochter nach Lord Altrinchams geharnischter Kritik an ihren entrückten öffentlichen Auftritten 1957
das Ruder herumreißt, zum ersten Mal eine Weihnachtsansprache im Fernsehen hält,
zum ersten Bürgerempfang in Buckingham Palace einlädt und sich im Schlosshof
Klempner und StudienrätInnen zum Small-Talk mit den beiden gekrönten Häuptern aufreihen.
Elisabeth ist so klug, sich in das Unvermeidliche zu fügen: „Wir schauen tatenlos zu und warten bis sich das Volk entscheidet“, weist die Queen ihren geschockten Onkel Lord Mountbatten zurecht, als der sich mit dem Gedanken trägt, an die Spitze einer Verschwörung gegen die immer unbeliebtere Labour-Regierung von Harold Wilson zu treten, die ihn als Militärchef geschasst hat. „Wir haben gelernt, keine Stimme zu haben“.
Ganz schmerzlos geht das freilich auch bei einem Zwangscharakter nicht ab, der von Kindesbeinen in der Sekundärtugend „It’s our duty“ gedrillt wurde. Es gibt einen Moment in „The Crown“, in dem Elisabeth, nachdem sie ihren ersten, geliebten Premierminister Winston Churchill auf dem Totenbett besucht hat, wehmütig eine Gruppe von Wählern ansieht, die sich aus sicherer Entfernung zu ihrem mit Chauffeur gefahrenen Auto an ihrem örtlichen Wahllokal anstellen.
Sie ist die mächtigste Person des Landes. Auch wenn diese „Macht“, frei nach Georg Friedrich Wilhelm Hegel nur darin besteht, der Idiot zu sein, der einem, bis zum letzten Komma von außen diktierten Inhalt den zeremoniellen Segen des „Dies ist mein Wille. So sei es!“ verleiht. Und doch bleibt ihr eines verweigert, das ihren Untertanen Macht verleiht: die Abstimmung.
Trotz dieses kritischen Subtextes kommt
die Serie zur rechten Zeit. So wie sie royalistische Sehnsüchte bedient. Nicht
zufällig auch zu Zeiten, wo die demokratischen und egalitären Konditionen der
Demokratie geringgeschätzt werden und zu implodieren drohen. In Zeiten des allgemeinen
Kollapses bevorzugt die Seele nun mal das Stabile.
In Deutschland ist es die Schizophrenie
eines Hohenzollernschlosses, das dem postkolonialen Dialog gewidmet sein soll. In
Großbritannien ist es die liebevolle Annäherung an die poröse Form der Sandburg
einer überforderten Familie, die oft nur mehr von einem sehr dünnen Hosenbandorden
zusammengehalten wird.
Da schaut mensch auch schon einmal
über den Sarkasmus hinweg, dass zu Zeiten sozialer Exklusion, beruflicher Deklassierung
und verweigerter Diversität in „The Crown“ unentwegt Bürgerliche, adlige und gekrönte Weiße darüber klagen,
wie sie unter ihren Privilegien, an ihrer luxuriös gepolsterten Ohnmacht leiden
und wie sehr sie ein anderes Leben anstreben. Selbst ein klassenbewusster
Arbeiter in der Labour-Hochburg im mittelenglischen Bassetlaw dürfte Mitleid
mit Prinzessin Margarets gescheiterter Flucht in die Bohème empfinden.
Mit der Qualität des cineastischen Handwerks
oder dem Schlafzimmerblick des jungen Prinz Philipp allein lässt sich die
enorme Bindewirkung der Serie nicht erklären. So hölzern sind Dialoge und
Szenenführung gestrickt.
Die Schlüssellochperspektive ist durch
die zeitgenössische Yellow Press mehr als ausgereizt. Wirklich aufregend Neues
über die Essgewohnheiten der Queen, ihre Corgies oder das Liebesleben von
Prinzessin Margaret hat sie nicht wirklich zu bieten.
Der immense Erfolg rührt von der
Strategie der Intimisierung. Von den Liebes- und Lebensbedingungen der
gewählten Politiker wissen wir inzwischen fast weniger als von denen der Royal
Family.
Und wie könnte den Massen das Seelengift
des Royalen besser injiziert werden als durch die Szene, in der die Königliche
Familie im Wohnzimmer von Buckingham-Palace gemeinsam vor dem Fernseher der
Mondlandung entgegenfiebert oder die Queen sich morgens die Marmeladebrötchen
am Frühstückstisch selbst schmiert?
In Szenen wie dieser schnurrt Ernst
Kantorowiczs erhabenes Dogma von den zwei Körpern des Königs auf die Faustregel
des singulären royalen Couchpotato zusammen.
So gesehen ist „The Crown“ auch eine
moderne Version des Sissy-Syndroms. Einerseits bietet sie eine fantastische
Spiegelfläche für die Opfer eines prämodernen double-bind: Der
Verhaltensanomalie, sich für die Zuwendung, die mensch durch huldvoll gehauchte
Banalitäten zu erfahren meint, mit untertänig zurück geheuchelter Zuneigung zu
bedanken.
Die Monarchie als Ritual folgenloser
Aufmerksamkeit und symbolischer Kompensation erodierender Solidarität nach
einer schier endlosen Tory-Dekade mit seinem exzessiven Sozialabbau. Der
Labour-Slogan „For the many, not for the few” bezog seinen anfänglichen Erfolg nicht
nur aus der Empörung über diese soziale Schieflage, sondern auch aus der emotionalen
Unterversorgung in der neuen britischen Klassengesellschaft.
Mag sie mit 30 Folgen auch das
Geheimnis und den Mythos gründlich zerstören, aus dem das Institut des
Königtums seine Magie bezieht. So gründlich leuchtet sie das Arkanum aus.
In Zeiten raubeiniger Autokraten bedient
die Serie die Sehnsucht nach dem unschuldigen Herrscher, nach der Liebhaberin
im Machtgewand, nach der Königin der Herzen.
In der Monarchie, sei sie auch
äußerlich mit dem Makel belastet, eine Bande anachronistischer GreisInnen in verstaubten
Staatsroben zu sein, schlummert der Wunsch nach der organischen Legitimität.
Nach einer, von Abstimmungen und Konfliktritualen ungetrübten Einheit des Staatskörpers.
So gesehen ist „The Crown“ ein Oxymoron: Symptom des prädemokratischen Regresses und – in dem sie die Legitimitätsfrage stellt – zugleich eine Warnung davor.
Dass der Gassenhauer „Kreuzberger Nächte“ im Schloss Bellevue ertönt, kommt auch nicht alle Tage vor. Insofern war es gewöhnungsbedürftig, als Sultan Tunc am Donnerstagabend die kleine Bühne des dortigen Festsaals bestieg.
Im weißen Nadelstreifen-Anzug, mit coolen Sneakers gab der deutschtürkische Rapper mit dem Rasta-Zopf , auch bekannt als Rasta Baba, die orientalische Version eines Erfolgshits zwischen zwei cremefarbenen Kissengemälden des deutschen Malerfürsten Gotthard Graubner zum Besten. Das Publikum tobte.
Der Zeitpunkt für den „Heimatabend“, zu dem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinen Amtssitz geladen hatte, hätte nicht besser gewählt sein können. Während sich in Erfurt die parlamentarische Speerspitze des Neovölkischen über ihre gelungene Wahl-Scharade freuen durfte, entfaltete sich in den Sälen des frühklassizistischen Baus im Tiergarten demonstrativ eine Heimat, wie sie diverser nicht sein könnte.
„Heimat gibt es auch im Plural“,
leitete Steinmeier betont programmatisch eine Soirée ein, die von einer
Pionierin der Diversität wie der Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar
über das Berliner Quartett „Cyminology“ bis zu Ersan Mondtag, dem
Shooting-Star der postmigrantischen Dramatik, reichte. Schnipsel aus
Fatih-Akin-Filmen sorgten für ein paar hübsche Verfremdungseffekte.
„Vor zehn, fünfzehn Jahren wäre das so noch nicht vorstellbar gewesen“, staunte Ijoma Mangold über das bunte Setting. Der Zeit-Kritiker, selbst Deutscher mit nigerianischem Hintergrund, moderierte eine Gesprächsrunde, die der schleichenden Veränderung der deutschen Heimat von den „Gastarbeitern“ bis zu den Tücken der Identitätspolitik nachspürte.
In der beginnen sich Menschen mit migrantischem Hintergrund wie die in Deutschland geborene Sängerin Cymin Samawatie („Cyminology“) eher intersektional als migrantisch zu verstehen. Und den in Berlin geborenen Ersan Mondtag „nervt es nur noch“ irgendwelchen, von außen herangetragenen Rollenklischees gerecht werden zu müssen. Sie wollen einfach gute Kunst machen.
Längst ist diesem veränderten Land aber noch nicht die entspannte Multikultur entstanden, die alle gern beschwören. Es stimme etwas nicht, wenn seinem Vater „der Gang auf das Amt mehr Angst einjage als eine Waffe im Gesicht“, goss der Schauspieler Dimitrij Schad, der mit acht Jahren vom kasachischen Almaty nach Deutschland zog und 2013/14 zum Nachwuchsschauspieler des Jahres gekürt worden war, Wasser in den Wein des deutschen Selbstbildes von der Willkommenskultur.
Bei einer der Familienheimfahrten sei er einmal Zeuge gewesen, als die kasachische Mafia seinen Vater im Auto mit der Waffe bedrohte und ihm Lösegeld abpresste. Da habe er ihn cooler erlebt als an den Tagen, an denen der Vater in Deutschland aufs Amt musste.
Alles in allem ein gelungener Abend, selbst wenn es nur Symbolpolitik war. Die weiter grassierende deutsche Xenophobie beseitigt ein solcher Heimatabend natürlich nicht. Doch Steinmeiers Inklusions-Zeichen an all diejenigen, die sich allzu lange hier nicht wirklich angenommen fühlten, kam an.
„Uns gehört der Serail“, begeisterte sich eine Almancı zu vorgerückter Stunde, als der Empfang unter der Vinylführung von DJ Ipek (İpek İpekçioğlu) in eine Disco mit Bauchtanzqualitäten ausartete, die dem SO36, in dem die queere Musikantin und antirassistische Aktivistin sonst die Kreuzberger Nächte aufheizt, jede Ehre machte.
„Könntest du dir vorstellen, dass Erdoğan so einen Abend in seinem Palast macht?“, fragt mich die Freundin. „Ich nicht!“
Vier sanft plätschernde Brunnen, an der Wand eine Kaskade pastellfarbener Bilder. Stumm flimmert das Video eines Seebildes, vor einem violettfarbenen Relief verfallen Besucher in Trance wie vor einem Werk Mark Rothkos.
Wer dieser Tage den ersten Stock des
Palais Populaire betritt, fühlt sich plötzlich wie in einer Entschleunigung-Kammer.
So sehr dimmt die minimalistische Szenerie in den hellen Räumen den hektischen
Besucher herunter. Der Eindruck des Schönen, Farbigen, Ruhigen täuscht jedoch.
Im Kern dreht es sich bei dem Werk von
Caline Aoun um das Gegenteil von Versenkung, Entrückung, Kontemplation: Was die
1983 in Beirut geborene Künstlerin umtreibt, ist nämlich das, was den Menschen die
Ruhe raubt: Der Exzess an Daten und Bildern, die auf sie einstürmen, die
Übermacht des Digitalen.
„Mich interessiert, wie sich diese
Übersättigung, diese Erschöpfung, die daraus resultiert, auf unsere Gefühle
auswirken. Ich suche dabei immer nach Möglichkeiten, diesen visuellen Lärm
entweder zu dämpfen oder zu verstärken“ sagt die Künstlerin.
Die frappierende Dialektik, mit der
sie dieses Dilemma ästhetisch übersetzt, hat ihr die Auszeichnung „Deutsche Bank-Artist
of the Year“ eingetragen. Es spricht für diesen Preis, dass er nicht mit Geld und
spektakulären Zeremonien aufgewogen wird, sondern mit einer Einzelausstellung.
Dass Aoun bei aller formalen Anmutung
ihrer Kunst immer den politischen und ökonomischen Kontext ihres Umfeldes mit
reflektiert, zeigt ihre Arbeit „Lands of Matter“ von Jahr 2015. Dafür hat sie
Frachtdaten von aus dem Beiruter Hafen umgeschlagenen Waren in ein 6 x 16
Bilder- Raster überführt, das den Jahren 2003 bis 2018 entspricht.
Das Unsichtbare, Abstrakte von Daten
verwandelt Aoun so in Anschauliches, Sichtbares. Zugleich lassen sich an dem
Ensemble auf- und abschwellender schwarzer Diagramme, welches sie „stumme
Bilder“ nennt, die Konjunkturen des Krieges in ihrer Heimat ablesen.
Mit solchen Arbeiten laboriert sie nah
an den Visualisierungsversuchen der Künstlerischen Forschung, die derzeit
Konjunktur hat. Spannender wird es, wenn sie die formale Schönheit, die aus
diesem Transfer bei ihr immer entsteht, aus Störmomenten gewinnt.
Ihre raumfüllende Berliner Arbeit „Contemplating
Dispersions“ etwa sieht aus wie eine gigantische Ode an die Schönheit: Eine zunächst
teerschwarze, dann in rot-violette, am Ende weiß verschlierte Farbflächen auslaufende
Bahn, die eine ganze Wand bedeckt. Kategorien wie Digitale Farbfeldmalerei oder
Zufallsästhetik beschreiben das Ergebnis aber nur bedingt.
Denn die vielblättrige Bilderstrecke entsteht
dadurch, dass ein Drucker die Überlast an Daten, mit denen Aoun ihn gefüttert
hat, mit allen verfügbaren Farben auch dann noch auszudrucken versucht, wenn die
Druckerpatronen versiegen: Was schönt aussieht, sind nichts anderes als Fehlfarben.
Die Überforderung des Druckers
versinnbildlicht die Überforderung im Umgang mit den Daten und den Exzess der
Bildproduktion. Das Werk symbolisiert aber auch die Selbstbehauptung der Kunst
unter dem Druck zunehmender Technisierung.
Wegen des Bürgerkriegs in ihrer Heimat
begann Aoun 2002 in London zu studieren, zunächst ganz traditionell Malerei.
Pinsel und Leinwand ließ sie dann schnell sinken, experimentierte mit dem
Drucker. „Malen“ kann eben auch heißen, den „Kampf eines Bildes“, das mit allen
Mitteln zu erscheinen sucht“, sichtbar zu machen.
Eine schöne Übersetzung für das Wort
vom „Datenfluss“ ist ihre Arbeit „Infinite Energy, Finite Time“. In den vier,
wie in einem orientalischen Garten in der Mitte des Saals platzierten Brunnen
plätschert nämlich kein Wasser, sondern Flüssigkeit in den Grundfarben Cyan,
Magenta, Yellow und Schwarz aus dem digitalen Vierfarbdruck.
Durch ein unterirdisches System sind alle
so verbunden, dass sich die Flüssigkeiten langsam mischen. Am Schluss bleibt
nur noch eine unansehnliche braune Soße, die die Leitungen verklebt, bis der
Kreislauf zusammenbricht: Globaler Datensumpf.
Nicht jede Arbeit in diesem Parcours
ist geglückt. Die in Kupfer gegossenen Piniennadeln in einer Ecke wirken ebenso
kunstgewerblich wie der violette Silikonabdruck der alten Mauern des Palais
Populaire. Hier tastet Aoun sich an die Themen Reproduzierbarkeit und
Ortsspezifik Ortsspezifik heran.
Alles in allem ist ihre Kunst aber ein spannender Versuch zur Dialektik von materiell und Immateriell. Das Tolle an ihrer Arbeit ist, dass sie die Idee einer Informationsökologie ohne verblasene Esoterik oder Pseudo-Besinnlichkeit aufruft, sondern formal präzise, sinnlich und technisch auf der Höhe der Zeit.
Wegen ihrer Farbigkeit ist die
Ausstellung gleichsam ein Paradebeispiel für die Programmatik des Hauses, in
dem es derzeit zu sehen ist. Anspruchsvoll sollen die Ausstellungen sein, aber
doch populär. So formulierte es Svenja von Reichenbach, seine Leiterin, zur
Eröffnung im Herbst vergangenen Jahres.
Dieser Maxime folgten die meisten der
bislang gezeigten Schauen. Ob es nun der „Summer of love“ über die Ästhetik von
Woodstock war oder die Virtual Reality-Installation zu Oskar Schlemmers und
Walter Gropius‘ „Totalem Tanz-Theater“ ist. Wie die alte Kunsthalle im
DB-Stammhaus Unter den Linden, aus dem das Palais hervorging, liefert es
kleine, pointierte Ausstellungen.
Fraglich dennoch, ob es wirklich der
„Publikumsmagnet“ geworden ist, wie es ihm prophezeit wurde – trotz guter
Besucherzahlen. Gegen die anfangs bespöttelte Kombination aus „Kunst, Kultur
und Sport“ wäre nichts einzuwenden. Wenn diese Plattform mehr böte als eine
lose Abfolge von Ausstellungen, Lesungen, Talks und Workshops.
Das Haus wirkt oft leer und steril: Außen
Rokoko, innen aseptischer White Cube Marke Kuehn Malvezzi: Das kalte Restaurant
kann es nicht mit dem quirligen Operncafè aus dem alten Prinzssinnenpalais aufnehmen.
Einen brodelnden Melting-Pot aus Massen- und Hochkultur stellt man sich anders
vor.
Vielleicht sollte sich das Palais die
Kunst Caline Aouns zum Vorbild nehmen: Ab und zu den ganzen Laden mal gezielt in
einen Ausnahmezustand manövrieren.
„No Groko“. Besucher der kleinen
Galerie Zwinger in einem verschwiegenen Teil von Berlin-Schöneberg schauen dieser
Tage etwas ungläubig auf den Plastikball, der da von der Decke hängt. In roten
Lettern prangt das Motto auf der transparenten Ampel. Hat sich jetzt auch die
Kunst auf die Seite der SPD-Linken geschlagen?
Als Signal will Claus Föttinger die Losung freilich nicht verstanden wissen. Seine Skulptur erinnert an Buckminster Fullers berühmte Globus-Lampe. Die Fotos und Slogans aus der SPD-Geschichte, die der Objektkünstler, Jahrgang 1960, darauf gemalt hat, spiegeln die Schichten seiner eigenen Biografie.
Sie reicht von einem Bild des Sexualkundeatlas der einstigen SPD-Ministerin Käte Strobel in dem inneren Polyeder bis zu einem des neuen Führungsduos Norbert-Walter Borjans und Saskia Esken auf dem äußeren. Fast wehmütig betrachtet der Künstler, den Kopf in die Hand gestützt, seine handvernähte Wunderlampe, als wäre sie seine zweite Haut: „Wie viele Jahre haben mich diese Bilder begleitet“.
Es zeichnet die originelle Themen-Ausstellung
des Kurators und Kritikers Hans-Günther Hafner und des Offenbacher Malereiprofessors
Gunter Reski zur „Zukunft der SPD“ aus, dass sie weder in die Häme verfällt,
mit der die SPD gleichsam gewohnheitsmäßig von der linksliberalen Intelligenz
überzogen wird. Niemand ruft „Arbeiterverräter“. Sie stimmt auch nicht den Schwanengesang
an, mit der die Medien die „Eskabolation“ von August Bebels Traditionstruppe begleiten.
Sieht man von den drei zerknäulten roten Schlipsen ab, die Manfred Pernice in eine mit rotem Samt ausgeschlagene Glasbox gelegt hat – dezent ironischer Hinweis auf die Verbürgerlichung einer einst revolutionären Bewegung. Wenig überraschend empfehlen die beteiligten 32 Künstlerinnen ihrem verzagten Wurmfortsatz eine beherzte Linkswende.
Lutz Braun hat die Köpfe von Rosa Luxemburg und Rudi Dutschke auf einen umgestürzten roten Schirm gemalt, wie er an einsamen SPD-Wahlkampfständen steht. „Hey Barista, Yoga-Lehrer, Putzhilfe, Babysitterin“ hat Michaela Meise auf ihren Vorschlag für ein Wahl-Plakat in Neon-Pink geschrieben. „Das Prekariat wählt SPD!“.
Und in drei Videos in fröhlichem Agit-Prop empfiehlt Ina Wudtke den Sozialdemokraten den basisdemokratischen Kampf gegen die Gentrifizierung: „Rekommunalisierung plus – Mieterräte sind ein Muss!“
Das Verhältnis von Kunst und Politik realisiert sich hier als ratlose Empathie. Eine schmissige Utopie für die poröse Formation fällt nämlich auch ihren ästhetischen Hilfstruppen nicht ein. „In Utopia gibt es kein Privateigentum oder Geld“ – einen massenkompatiblen Slogan für die nächste Bundestagswahl gäbe auch Helmut und Johanna Kandls sympathisches Motto nicht her, den die Künstler über ein mittelalterliches Paradiesbild geklebt haben.
Bleibt die Hoffnung auf eine ähnliche Kultfigur wie sie Willy Brandt auf dem ikonischen Plakat in offenem Jeanshemd, mit Mandoline und Kippe im Mundwinkel hergab. Die Fotografin Heidi Specker hat einem Exemplar die Füße der melancholischen Spaßvögel Laurel und Hardy untergeschoben.
Dass ein ästhetischer Normalo wie
Kevin Kühnert im Medium der Kunst zu dem schmerzlich vermissten Strahlemann mutieren
kann, zeigt das Porträtbild des Juso-Chefs, das Norbert Bisky zu der Schau
beigesteuert hat – eine Mischung aus warholisierendem Pop-Star und angeschwultem
Coverboy. 22.000 Euro für das vollgekleckerte Ölgeviert sind nicht gerade ein
Pappenstiel. Aber als Freiberufler muss der gefühlte Genosse Bisky schließlich
an seine Mindestrente denken.
„Armes Volk, selbst in den Gräbern stört man deine Ruhe!“ Alexander von Humboldt, Altmeister der Künstlerischen Forschung, plagte ein schlechtes Gewissen, als er 1800, auf einer seiner Südamerika-Reisen, aus der Höhle von Ataruipe, einer Begräbnisstätte des ausgestorbenen Stammes der Atures-Indianer, Knochen und Schädel mitgehen ließ. Ihm schwante schon, dass er da an einer moralischen Grenze operierte.
Von derlei Selbstzweifeln war das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) gänzlich ungetrübt, als es in Polen die Asche mutmaßlicher Holocaust-Opfer mitgehen ließ, um sie als illuminiertes Beweismittel in Sachen unterlassener Erinnerung im Berliner Regierungsviertel auf einen Stahlpfahl zu ziehen.
Etwas wie diese morbide Lavalampe mit posthumanen Schwebestoffen muss Guy Debord vor Augen gehabt haben, als er sein Verdikt „Die Gesellschaft des Spektakels“ schrieb.
Der Zweck des größtmöglichen Schockeffekt heiligt bei Philipp Ruchs Gesellschaft mit moralisch beschränkter Haftung nicht zum ersten Mal die pietätvollen Mittel. Die toten Einwanderer von den EU-Außengrenzen, denen die Hohepriester der grausamsten Kunstfreiheit vor vier Jahren Schau-Gräber in Berlin aushoben, hatten wahrscheinlich per Patientenverfügung eingewilligt, als Demonstrationsobjekte der Direct Action zur letzten Ruhe gebettet zu werden.
Bedurfte es erst des massiven Protestes der Hinterbliebenen und der Opferverbände, um die die nekrophilen Marterpfähle wieder zu verhüllen? Oder war diese Volte auch nur höhere Dialektik, die wir nicht verstehen, solange wir noch nicht das Ruß-Mal der Gerechten und Erleuchteten tragen?
Sich zu entschuldigen, sich im gleichen Atemzug aber als „Sturmtruppe für die Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit“ wieder aus dem Sumpf des Kniefalls zu ziehen, wie es am Ende des Nostra-culpa-Textes des ZPS hieß, ist der Gipfel politmoralischen Virtuosentums.
„Gedenken heißt kämpfen“ steht auf einem Banner über dem stählernen Erinnerungspoller. Die Nähe zur NS-Rhetorik ist fatal. Die Sturmtruppen zur Errichtung der sittlichen Schönheit, der nationalen Poesie und des menschlichen Großreinemachens, deren mörderisches Erbe das ZPS eigentlich aufgearbeitet und perspektivisch wissen will, hätten es nicht martialischer skandieren können.
„Die Hoffnung auf den Moralischen Fortschritt der Menschheit liegt in der Kunst“ hat Philipp Ruch einmal gesagt. Wer in ihrem Subgenre Erinnerungsästhetik derart fundamental versagt, sollte die Gummizelle falsch verstandener Schönheit aber besser endgültig schließen.
444 zerbrochene Stelen. Dass die Öffentlichkeit an ihrer Arbeit Anstoß nehmen würde, musste Adeela Suleman klar gewesen sein. Doch dass sie zerstört werden würde, das dürfte die Fantasie der pakistanischen Künstlerin dann doch überschritten haben.
Am Tag der Eröffnung der 2. Karatschi-Biennale Ende Oktober schlossen bis heute unbekannte Sicherheitskräfte einen Raum, in dem das Video ihrer Arbeit „The Killing Fields of Karatschi“ zu sehen war. Als die Künstlerin, die bei der Aktion zugegen war, sich weigerte, auch die zur Arbeit gehörenden Skulpturen von dem Grundstück der Frere Hall, Karatschis altem, noch aus Kolonialzeiten stammenden Rathaus, wegzuschaffen, zerstörten sie die Betonsäulen.
Sulemans Arbeit bestand aus 444, Grabsteinen ähnlichen, mit einer metallenen Rose verzierten Skulpturen, die an die 444 Opfer “außergerichtlicher Tötungen” unschuldiger Bewohner Karatschis in den Jahren 2011 bis 2018 erinnern sollte. Für die Mord-Serie steht der ehemalige Polizei-Superintendent Rao Anwar derzeit vor Gericht.
Die spektakuläre Aktion überschattete die Eröffnung der 2017 von einer breiten zivilgesellschaftlichen Initiative gegründeten Biennale. An ihrer Spitze steht Pakistans wichtigste Kunstkritikerin Niilofur Farrukh. In einem Land, für das auf den Straftatbestand der Blasphemie offiziell immer noch die Todesstrafe steht, war diese Gründung eigentlich ein hoffnungsvolles Signal für den erweiterten Spielraum der Zivilgesellschaft und der Kultur. Konnte aber nicht die zahlreichen Attacken auf KünstlerInnen und Kunstwerke in den letzten Jahren vergessen machen.
Die moderne pakistanische Kunstszene hat in den letzten zehn Jahren einen erstaunlichen Aufschwung genommen. Dafür und das damit international gestiegene Interesse stehen KünstlerInnen wie Imran Qureishi (Deutsche Bank-Künstler des Jahres 2013), Iqbal Hussain oder die Filmemacherin Bani Abidi, der der Berliner Gropius-Bau kürzlich eine große Retrospektive widmete.
Ironischerweise erhielt den Haupt-Kunst-Preis der Karatschi-Biennale in diesem Jahr der international renommierte Artist Rashid Rana, der 2018 im Streit mit der Künstlerin Qudzia Rahim seinen Posten als Kurator der von ihr gegründeten, neuen Lahore-Biennale in der alten Residenz der Moghul-Kaiser niederlegte.
Zu den Geheimtipps dieser jungen Szene zählt mit der pakistanisch-amerikanischen Dragqueen Zulfikar Ali Bhutto, Jr., besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Faluda Islam, eine queere visuelle und Performance-Künstlerin, die derzeit in San Francisco lebt und zu der bekannten pakistanischen PolitikerInnen-Familie Bhutto gehört.
Wer einmal die Kunsthochschule National College of Arts (NCA) in Lahore besucht hat, kann die unkonventionelle, experimentelle Energie der jungen Independent-Szene, die sich dort entwickelt, förmlich mit Händen greifen. Dieser kulturelle Aufschwung steht in bemerkenswertem Gegensatz zu der konservativen Grundausrichtung des Landes. In Sachen Kunstfreiheit sieht es zwischen Arabischem Meer und Himalaya noch immer schwierig aus.
Erst im Januar 2019 war ein Student des NCA wegen einer riesigen Satans-Skulptur auf dem Gelände der wichtigsten Kunst-Universität vor den Obersten Gerichtshof des Landes zitiert worden. 2017 waren zwei Filme verboten worden. Immer wieder versuchen Kleriker, Musikfestivals mit einem Zensur-Bann zu belegen, weil sie „unislamisch“ seien. Nicht selten verbrennen sie bei solchen Aktionen die dort benutzten Musikinstrumente.
2016 war Amjad Sabri, Pakistans berühmtester Sänger des Qawwali, einer Form der spirituellen Sufi-Musik, auf offener Straße erschossen worden. In ihrem Report „The State of Artistic Freedom“ erwähnt die internationale Organisation „Freemuse“ Pakistan als eines der sieben Länder, die die ohnehin eingeschränkte Freiheit der Kunst mit neuen Gesetzen weiter zu begrenzen versuchen.
Auch unter dem neuen, reformorientierten Premierminister Imran Khan besteht die Zensur in Pakistan fort. Zwar sind ihr nach der Verfassung enge Grenzen gesetzt. Nach einem Bericht des pakistanischen Parlaments wurden 2019 aber rund 900.000 Webadressen wegen “blasphemischen, pornografischen und/oder feindseligen Gefühlen gegenüber Staat, Justiz und Armee“ blockiert.
Wie sehr die Angst vor der Zensur und den Sicherheitskräften selbst couragierten KunstfreundInnen, wie denen, die die Biennale begründet haben, in den Knochen steckt, bewies die Reaktion der Biennale auf den Vorfall vor einigen Wochen.
In Furcht, die gesamte Schau könnte womöglich von anonym operierenden Sicherheitseinheiten oder den offiziellen Behörden geschlossen werden, distanzierte sich deren Leitung erst von der Künstlerin und warf ihr unangemessene Politisierung der Biennale vor. Was bei einer Biennale einigermaßen merkwürdig klingt, die die Klimakrise als Agenda hat.
Daraufhin erhob sich ein tagelanger Shitstorm in den sozialen Medien, Künstlerinnen organisierten einen Protest-Aufruf. Erst eine Solidaritätserklärung des Künstlers Zeeshan Muhammad, zugleich verantwortlicher Kurator der 2. Biennale, zu Gunsten Adeela Sulemans und der Kunstfreiheit im Allgemeinen rettete die Lage.
Was zeigt: Auch wenn die besonderen Bedingungen in dem konservativen, tief religiösen Land mit einer ganz eigenen Tradition des „Tiefen Staates“ in Rechnung zu stellen sind, gilt auch in Südasien die universale Erkenntnis: Angst essen Kunstfreiheit auf. 2. Kunst
„Meine Herren, der Kampf in Paris ist nur ein kleines Vorpostengefecht,
die Hauptsache in Europa steht uns noch bevor und ehe wenige Jahrzehnte
vergehen, wird der Schlachtruf des Pariser Proletariats ›Krieg den Palästen,
Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggange!‹ der Schlachtruf des
gesamten europäischen Proletariats werden“.
Als August Bebel am 25. Mai 1871 vor dem Deutschen Reichstag in Berlin seine
Solidarität mit der Pariser Commune
bekundete, fackelte Otto von Bismarck nicht lange. Sofort ließ der eiserne
Reichskanzler die vaterlandslose SPD unter polizeiliche Beobachtung stellen.
Natürlich ist es albern und unhistorisch, die revolutionäre Vormoderne des
ausgehenden 19. als Kontrastfolie vor die reflexive Moderne des 21.
Jahrhunderts zu schieben. Und die Gilet Jaunes auf den Champs Élysées sind wahrscheinlich
doch eher nicht die Wiedergänger der Kommunarden, die vor fast 150 Jahren Napoleons
Kaisersäule auf dem Place Vendôme
stürzten.
Trotzdem würde man sich wünschen, dass die vom Aussterben bedrohte
Formation, die immer noch auf den Namen Sozialdemokratie hört, wenigstens
gelegentlich zu der Entschlossenheit ihrer Altvorderen zurückfindet.
Zwar sprach SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel, beim alljährlichen
Kulturempfang des Kulturforums seiner Partei, dem der scheidende
Oppositionschef in Hessen vorsteht, am Mittwochabend in Berlin mit Blick auf
den 26. Mai von einer „Schicksalswahl, einer Richtungswahl“. Dennoch kam nie an
diesem Abend nie ein Gefühl der Dringlichkeit auf.
Vielleicht lag es daran, dass die Einladung zu dem Abend wie die verkorkste
Werbung für eine Dating-App daherkam. „Es müsste Liebe sein. Wir und Europa“
war das mit kaum hundert Gästen schwach besuchte Meeting unterm Fernsehturm übertitelt.
Vielleicht lag es auch nur daran, dass Martin Schulz fehlte. Dem leidenschaftlichen
Rhetor nimmt man die Love Affair mit Europa wirklich ab.
Natürlich wird viel Richtiges gesagt an solchen Abenden.
SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley, die deutsch-britische Noch-Bundesjustizministerin,
beklagte den „bröckelnden Wertekonsens“ in Europa. Angesichts der Bedrohung
Europas von rechts seien die Bürger aber „aufgewacht“. „Im Herzen“ seien die am
Ende dann doch europäisch, versuchte sie Optimismus zu verbreiten. Dem deutsch-französischen
Schauspieler Christian Berkel ging es gegen den Strich, dass „die Lust an der
Vielfalt unterdrückt“ wird.
Es war bezeichnend, dass ein mutmaßliches Nicht-SPD-Mitglied den Finger
in die Wunde legte. „Haben wir Momente der Solidarität verschlafen?“ fragte die
Autorin Jagoda Marinić mit Blick auf die verratenen Werte Europas: Den Umgang
mit Flüchtlingen, das Spardiktat gegenüber Griechenland, die krassen
Einkommens-Unterschiede zwischen Nord und Süd. „Es gibt auch ein
Erfahrungseuropa. „Wir müssen ehrlich sein und unsere eigenen Schwachstellen
sehen“, schrieb die 1977 in Waiblingen geborene Tochter jugoslawischer
Gastarbeiter den Europhilen ins Stammbuch.
Angesichts dieses „Glaubwürdigkeitsproblems“ (Marinić) nützt es nicht
viel, wenn SPD-Wahlkämpfer ständig stolz die „Vereinigten Staaten von Europa“
beschwören, die die die Partei in ihr Heidelberger Programm von 1925 schrieb.
Und sich wundern, warum sie trotzdem niemand wählt. Gelingt es ihnen
nicht, den Abgehängten das „soziale
Europa“, das Katarina Barley beschwor, im eigenen Leben erfahrbar zu machen,
dürfte die Anti-Europa-Stimmung, die sich die Rechtspopulisten ausnutzen, kaum
verschwinden.
Nimmt man den matten Abend als Lackmustest für den Wahlausgang in einer
Woche, dürfte es düster aussehen für die europäische Traditionstante SPD. Konnte
sie für den Talk mit Häppchen doch so gut wie keine wirklich ausstrahlungsfähigen
Kulturschaffenden „empfangen“. Sieht man von allerlei Fußvolk aus dem
Regierungsviertel, Ex-Kulturstaatssekretär Tim Renner und den wackeren Dauergästen
dieser Empfänge wie Klaus Staeck, Gesine Schwan und Rolf Hochhut ab. Selbst die
Urgesteine Katja Ebstein und Mario Adorf fehlten. Kurzum: Keine kulturelle
Hegemonie, nirgends, über niemanden.
Das gleichsam anorganische Verhältnis der SPD zur Kultur belegte auch die
Ortswahl für das schwunglose Get-Together. Statt in ein Theater, ein Kino, ein
Museum, eine Galerie oder in einen der zahllosen, gentrifizierungsbedrohten Kultur-Spaces
der Stadt, lud das Kulturforum in eine seelenlose, pseudocoole „Eventlocation“ am
Alexanderplatz mit Plüschmöbeln, Stahlregalen mit vergoldetem Nippes und
Buchattrappen. Wohin man auch schaut bei dieser ausgezehrten Formation – es
fehlt einfach an allen Ecken und Enden an einer Idee von kämpferischer Solidarität.
INGO AREND