„Meine Herren, der Kampf in Paris ist nur ein kleines Vorpostengefecht, die Hauptsache in Europa steht uns noch bevor und ehe wenige Jahrzehnte vergehen, wird der Schlachtruf des Pariser Proletariats ›Krieg den Palästen, Friede den Hütten, Tod der Not und dem Müßiggange!‹ der Schlachtruf des gesamten europäischen Proletariats werden“.
Als August Bebel am 25. Mai 1871 vor dem Deutschen Reichstag in Berlin seine Solidarität mit der Pariser Commune bekundete, fackelte Otto von Bismarck nicht lange. Sofort ließ der eiserne Reichskanzler die vaterlandslose SPD unter polizeiliche Beobachtung stellen.
Natürlich ist es albern und unhistorisch, die revolutionäre Vormoderne des ausgehenden 19. als Kontrastfolie vor die reflexive Moderne des 21. Jahrhunderts zu schieben. Und die Gilet Jaunes auf den Champs Élysées sind wahrscheinlich doch eher nicht die Wiedergänger der Kommunarden, die vor fast 150 Jahren Napoleons Kaisersäule auf dem Place Vendôme stürzten.
Trotzdem würde man sich wünschen, dass die vom Aussterben bedrohte Formation, die immer noch auf den Namen Sozialdemokratie hört, wenigstens gelegentlich zu der Entschlossenheit ihrer Altvorderen zurückfindet.
Zwar sprach SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel, beim alljährlichen Kulturempfang des Kulturforums seiner Partei, dem der scheidende Oppositionschef in Hessen vorsteht, am Mittwochabend in Berlin mit Blick auf den 26. Mai von einer „Schicksalswahl, einer Richtungswahl“. Dennoch kam nie an diesem Abend nie ein Gefühl der Dringlichkeit auf.
Vielleicht lag es daran, dass die Einladung zu dem Abend wie die verkorkste Werbung für eine Dating-App daherkam. „Es müsste Liebe sein. Wir und Europa“ war das mit kaum hundert Gästen schwach besuchte Meeting unterm Fernsehturm übertitelt. Vielleicht lag es auch nur daran, dass Martin Schulz fehlte. Dem leidenschaftlichen Rhetor nimmt man die Love Affair mit Europa wirklich ab.
Natürlich wird viel Richtiges gesagt an solchen Abenden. SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley, die deutsch-britische Noch-Bundesjustizministerin, beklagte den „bröckelnden Wertekonsens“ in Europa. Angesichts der Bedrohung Europas von rechts seien die Bürger aber „aufgewacht“. „Im Herzen“ seien die am Ende dann doch europäisch, versuchte sie Optimismus zu verbreiten. Dem deutsch-französischen Schauspieler Christian Berkel ging es gegen den Strich, dass „die Lust an der Vielfalt unterdrückt“ wird.
Es war bezeichnend, dass ein mutmaßliches Nicht-SPD-Mitglied den Finger in die Wunde legte. „Haben wir Momente der Solidarität verschlafen?“ fragte die Autorin Jagoda Marinić mit Blick auf die verratenen Werte Europas: Den Umgang mit Flüchtlingen, das Spardiktat gegenüber Griechenland, die krassen Einkommens-Unterschiede zwischen Nord und Süd. „Es gibt auch ein Erfahrungseuropa. „Wir müssen ehrlich sein und unsere eigenen Schwachstellen sehen“, schrieb die 1977 in Waiblingen geborene Tochter jugoslawischer Gastarbeiter den Europhilen ins Stammbuch.
Angesichts dieses „Glaubwürdigkeitsproblems“ (Marinić) nützt es nicht viel, wenn SPD-Wahlkämpfer ständig stolz die „Vereinigten Staaten von Europa“ beschwören, die die die Partei in ihr Heidelberger Programm von 1925 schrieb. Und sich wundern, warum sie trotzdem niemand wählt. Gelingt es ihnen nicht, den Abgehängten das „soziale Europa“, das Katarina Barley beschwor, im eigenen Leben erfahrbar zu machen, dürfte die Anti-Europa-Stimmung, die sich die Rechtspopulisten ausnutzen, kaum verschwinden.
Nimmt man den matten Abend als Lackmustest für den Wahlausgang in einer Woche, dürfte es düster aussehen für die europäische Traditionstante SPD. Konnte sie für den Talk mit Häppchen doch so gut wie keine wirklich ausstrahlungsfähigen Kulturschaffenden „empfangen“. Sieht man von allerlei Fußvolk aus dem Regierungsviertel, Ex-Kulturstaatssekretär Tim Renner und den wackeren Dauergästen dieser Empfänge wie Klaus Staeck, Gesine Schwan und Rolf Hochhut ab. Selbst die Urgesteine Katja Ebstein und Mario Adorf fehlten. Kurzum: Keine kulturelle Hegemonie, nirgends, über niemanden.
Das gleichsam anorganische Verhältnis der SPD zur Kultur belegte auch die Ortswahl für das schwunglose Get-Together. Statt in ein Theater, ein Kino, ein Museum, eine Galerie oder in einen der zahllosen, gentrifizierungsbedrohten Kultur-Spaces der Stadt, lud das Kulturforum in eine seelenlose, pseudocoole „Eventlocation“ am Alexanderplatz mit Plüschmöbeln, Stahlregalen mit vergoldetem Nippes und Buchattrappen. Wohin man auch schaut bei dieser ausgezehrten Formation – es fehlt einfach an allen Ecken und Enden an einer Idee von kämpferischer Solidarität. INGO AREND