Bücher und Manuskripte, Landkarten aus der osmanischen Epoche, irakische Zeitungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Als die Dschihadisten des „Islamischen Staats“ im Sommer 2014 die Stadt Mossul einnahmen, zerstörten sie nicht nur antike Statuen.
Auch die Zentralbibliothek ließen sie in Flammen aufgehen. Die UNESCO sprach von „einem der verheerendsten Akte der Zerstörung von Bibliotheksbeständen in der Geschichte der Menschheit“. Nur 30.000 von einer Million Büchern überstanden die barbarische Attacke.
Rückgängig machen lässt sich der Akt von Vandalismus nicht mehr. Doch jetzt wird immerhin der Grundstock für einen Neuaufbau gelegt. Denn der britische Künstler und Autor Edmund de Waal wird rund 2000 Werke seiner „Library of Exile“ an die Unibibliothek der nordirakischen Metropole spenden, die damals in Flammen aufging.
Der 1964 in Nottingham geborene de Waal ist durch seine Keramiken berühmt geworden. Der Abkömmling der jüdischen Bankiers-Familie Ephrussi hatte Keramik studiert. Seit 2004 ist er Professor für Keramik an der Londoner University of Westminster. Seine Porzellangefäße werden in Museen wie dem Victoria & Albert oder der Tate Britain ausgestellt.
2010 wurde er mit seinem Buch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ berühmt. Am Beispiel der Sammlung von 264 Netsuke, japanischen Miniatur-Schnitzereien aus Holz und Elfenbein, die sein Urgroßonkel Charles Ephrussi in den 1870er Jahren in Paris erwarb, rekonstruiert er das Schicksal seiner Familie, die über Odessa nach Wien kam, von den Nazis enteignet wurde und schließlich nach London flüchtete.
Besonders fasziniert hatte den jungen Edmund die riesige Bibliothek seines Urgroßvaters Viktor. Kein Wunder, dass er die Schließung vieler Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten, wie er „Monopol“ erklärt, „als die schwerste Beschädigung, die der sozialen Struktur in den letzten Jahrzehnten zugefügt wurde“ sieht. De Waal wollte ein Zeichen setzen: „Ich musste etwas unglaublich Positives tun: Eine neue Bibliothek erstellen, etwas gegen die Landschaft der Polarisierung und Rhetorik setzen“.
Die Exil-Bibliothek, die er zusammenstellte, war ein Höhepunkt der letzten Venedig-Biennale. De Waal ließ in der Scola Anton im jüdischen Ghetto und im Ateneo Veneto auf dem Campo Fantin einen weißen Pavillon installieren. Dessen Schauwände waren mit flüssigem Porzellan bemalt und mit den Namen berühmter, zerstörter Bibliotheken beschriftet – vom mesopotamischen Ninive über Tripoli im Libanon bis zu Mossul im Irak.
Für die künstlerische Herangehensweise hatte sich de Waal bewusst entschieden. Schon als Jugendlicher entwickelte er eine Obsession für das weiße Gold. Mit 17 Jahren berührte er in Japan zum ersten Mal Porzellanerde. Für ihn ist es das Material, das „jede Denkbewegung, jeden Wechsel der Gedanken aufzeichnet“.
Als „Fauvisten des Weiß“ bezeichnet sich der Künstler deswegen gern. Die Farbe symbolisiert für ihn Unschuld und Reinheit. Aber auch, wie das besessene Bedürfnis danach, zum Beispiel in Diktaturen, zum genauen Gegenteil führen kann.
Alle Autorinnen von de Waals „Library of Exile“ hatten ihr Land verlassen müssen. Sie enthält Werke von Ovid über Tacitus, Voltaire bis zur Kinderbuchautorin Judith Kerr. Konzipiert war die zweiteilige Installation als wachsende Bibliothek: Die Besucher konnten weitere Werke zu den Büchern aus 100 Ländern vorschlagen.
Wer aus der offenen Installation in Venedig nach oben an die Decke des Ateneo schaute, erblickte Heinrich Heines Satz: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“. Nach Venedig war sie in Dresdens Japanischem Palais zu sehen, zuletzt bis Ende Januar 2021 im British Museum. „Es ist das Persönlichste“ und Bedeutendste, was ich getan habe“, gesteht de Waal. „Es fühlt sich wirklich wie ein bisschen schöner Aktivismus an“.
Für sein Thema von Heimat, Vertreibung und Exil hätte sich der Künstler keinen besseren „Library“-Standort auswählen können als die irakische Bibliothek. Mit Unterstützung der Hilfsorganisation Book Aid International wird sie dort nicht als Installation wieder aufgebaut, sondern in den Bücherbestand integriert.
Ihre porzellanbedeckten Schauwände wandern in das Londoner Warburg-Institut. Doch an ihren Ex Libris werden die Bücher in Mossul als Teil der „Library“ erkennbar sein. Auf deren Website lässt sich weiterhin ihr Originalbestand recherchieren.
Natürlich kann de Waals Bibliothek nicht die uralten Korane oder islamischen Handschriften ersetzen. Seine Hoffnung für eine „Wiederbelebung nach den Jahren der Repression“ gründet er auf einer anderen Beobachtung: „Die Menschen in Mossul“, erklärt er, „haben einen traumatischen Umbruch erlebt und einige haben möglicherweise ihre Heimat verlassen, um von vorne zu beginnen, während andere in der Lage waren zu bleiben und jetzt ihre Stadt und ihre Universität wieder aufbauen und ihre Kultur allmählich wiederherstellen. Wir haben festgestellt, dass sich Exilanten oft viel bewegen – sie gehen, gehen zurück, gehen wieder, bewegen sich woanders hin und diese diasporische Reise führt zu neuen Gesprächen in neuen Sprachen und eine gegenseitige Befruchtung von Ideen. Die Sprache ist niemals statisch und Bibliotheken sollten es auch nicht sein“.