Bonaventure Ndikung wird neuer Intendant des Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin

Die „Göttin der Gerechtigkeit“ als schwarzer Racheengel. Einfach eine ganz normale Biennale konnte Bonaventure Ndikung im niederländischen Arnhem Anfang Juli natürlich nicht eröffnen. „Labour-Arbeit“ hatte er ursprünglich als Thema gewählt. Doch das Postkoloniale hat der Kurator der 12. Sonsbeek-Biennale, benannt nach einem Park der Hauptstadt der Provinz Gelderland, dann doch zu sehr in der DNA.

Mit seinem 2009 in Berlin gegründeten Kunstraum Savvy Contemporary wurde er zum Pionier dieses Ansatzes nicht nur in der dortigen Kunstszene. Und die kolonialen Spuren finden sich in dem einstigen Angelpunkt des niederländischen Kolonialreichs an jeder Ecke. Deswegen stehen die Besucher:innen in einem alten Portierhäuschen plötzlich vor einer Statue der nigerianischen Künstlerin Ndidi Dike mit dem ehrfurchtheischenden Titel. Diese Justitia ist freilich schwarz. In ihrer rechten Hand trägt sie eine Machete, in ihrer linken trägt sie eine schiefe „Waage der Gerechtigkeit“.

Arbeiten wie diese hatte Ndikung natürlich schon Monate vor seiner überraschenden Ernennung zum neuen Intendanten des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin ausgewählt. Dennoch meinte man In dem Parcours nun vor allem die Handschrift desjenigen zu erkennen, der ab dem 1. Januar 2023 eine der wichtigsten deutschen Kulturinstitutionen leiten wird.

Dass er sein neues Haus aber nicht zum Kolonialismus-Tribunal umfunktionieren will, machte er in Arnhem auch deutlich. Wieder und wieder wies er auf die Gründungsidee der Sonsbeek-Biennale hin. Schon 1949, sechs Jahre vor der documenta gegründet, sei es in der im 2. Weltkrieg schwer zerstörten Stadt um „Versöhnung“ gegangen, darum, mit Hilfe der Kunst die Gesellschaft zu heilen. „Wir sind alle gemeinsam in dieser Geschichte“ stellt er in einer improvisierten Ansprache klar. „Es geht darum, den Prozess der Re-Humanisierung einzuleiten“.

Die überraschende Ernennung des 1977 in Yaoundé in Kamerun geborenen Ndikung lässt sich kaum anders als kulturpolitisches Signal verstehen. Mit ihrer Personalentscheidung konterte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) die nicht endende Kritik an dem diffusen Konzept des vermurksten Humboldt-Forums mit Kreuz auf dem Dach und weißem Intendanten an der Spitze.

Doch abgesehen von der Frage, ob sie damit nicht zwei ähnlich aufgestellte Institutionen in eine unproduktive Konkurrenz treibt. Es fragt sich auch, ob der Mann wirklich der Richtige für die Aufgabe ist.

Für Bonaventure spricht sein ausgeprägtes Diskurs-Interesse. Seine Texte und Statements kommen meist wie schwere philosophische Manifeste daher. Die Manager-Fähigkeiten des Hardcore-Intellektuellen sind aber nicht zu unterschätzen. Dass er sein Savvy Contemporary von einem Ladenlokal in Neukölln über diverse Zwischenstationen schließlich in ein ansehnliches Haus im Wedding und sich selbst hernach an die HKW-Spitze hieven konnte, zeugt von beachtlichem Planungs-, Fundraising- und Vernetzungsgeschick.

In diesem unbedingten Glauben an die Kraft der Kunst (und an sich selbst) ähnelt er einem anderen Quereinsteiger – dem Kunst-Werke- und Berlin-Biennale-Gründer Klaus Biesenbach. Auch der ehemalige MoMA-Kurator und heutige Chef des MOCA in Los Angeles kam als Quereinsteiger zur Kunst. Biesenbach begann als Mediziner, Ndikung ist promovierter Biotechnologe.

Mit seiner Arbeit als Kurator bei den Biennalen in Sonsbeek, als „Curator at Large“ bei Adam Szyczymks documenta 14, bei der Fotografie-Biennale in Bamako in Mali und der Dak’Art in Dakar im Senegal hat sich Ndikung nebenbei auch auf dem internationalen Parkett einen Ruf als erfolgreicher Kurator und Ausstellungs-Macher erworben.

Seinen mitunter etwas akademischen „approach“ kann er an der Kunsthochschule Weißensee ausleben. Seit dem November 2020 teilt er sich dort mit dem Künstler Nasan Tur die kommerzielle Professur im Studiengang „Raumstrategien“.

Diese transdisziplinären Fähigkeiten wird er am HKW brauchen können. Seine aktivistische Energie, gepaart mit einem überbordenden Enthusiasmus für Ästhetik, Poesie und vor allem Musik könnten dem Haus, das nach den Erfolgen des scheidenden Intendanten Bernd Scherer mit Projekten wie „Anthropozän“- und „Forensic Architecture“ zuletzt etwas lahmte, neuen Schwung verleihen.

Doch von Kunst und Postkolonialismus allein wird dieser Kulturtanker mit seinem jährlichen Neun-Millionen-Etat nicht leben können. Und ob der Bottom-Up-Ansatz, den Ndikung anstrebt, wenn er, wie er nach seiner Ernennung erklärte das „Gaswurzelumfeld“ und das „migrantisch situierte Wissen“ von über 190 in Berlin lebenden Nationen „in das neue Haus“ einladen will, in dem staatlichen Repräsentativkörper, der das HKW eben auch ist, funktioniert, wird sich zeigen. Sollte es ihm gelingen, wäre auch das eine „Versöhnung“.

documenta-Aufarbeitung: Der Einbruch der Zeitgeschichte in das Refugium der Ästhetik

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Was bedeutet eigentlich die Imprägnierung der documenta durch den Nationalsozialismus? Seit den Enthüllungen zu den NS-Verstrickungen einiger Gründerväter der 1955 von Arnold Bode gegründeten Weltkunstschau steht die Kunstwelt vor den Trümmern eines Mythos.

War das vielgerühmte Bekenntnis zur Moderne bloß inszeniert? Versuchten sich die documenta-Macher damit von ihrer eigenen Schuld reinzuwaschen? Und was bedeutet das für die Zukunft der Schau?

Eine endgültige Antwort auf diese Fragen fand auch die Hybrid-Tagung „Opfer oder Täter? Thesen zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Kuratoren der ersten documenta“ letzten Freitag nicht. Mit der Konferenz der Kasseler Kunsthochschule und des documenta-Archivs versuchte vielmehr das Kunstestablishment dort den Eindruck zu zerstreuen, in der documenta-Stadt würde nicht genug getan, den brisanten Komplex selbst aufzuarbeiten.

Die NSDAP-Mitgliedschaft des documenta-Chefideologen Werner Haftmann hatten der Oxforder Historiker Bernhard Fulda und Julia Friedrich vom Kölner Museum Ludwig herausgefunden. Bei der Aufarbeitung der politischen Geschichte kam der documenta das Deutsche Historische Museum (DHM) zuvor, als es 2019 eine Ausstellung dazu ankündigte.

Haftmanns SA-Mitgliedschaft hatte der Berliner Soziologe Heinz Bude und seine Frau, die Schriftstellerin Karin Wieland, kürzlich auf eigene Faust recherchiert. Da blieben den Diskutierenden, die der Kunstprofessor Kai-Uwe Hemken und Birgitta Coers, seit Oktober 2020 Direktorin des documenta-Archivs, eingeladen hatten, nicht viel mehr, als Detailfragen.  

Christian Fuhrmeister vom Münchener Zentralinstitut für Kunstgeschichte konstatierte den „Einbruch der Zeitgeschichte in das Refugium der Ästhetik“. Mit dem Kunsthistoriker Eckhard Gillen stritt er sich darüber, ob Haftmanns Idee einer gemäßigten Moderne aus den dreißiger Jahren, aus der nach Gillen die documenta 1 formte, nicht doch völkische Untertöne beherbergte.

Heinz Bude wiederholte seine schon andernorts ventilierte These von Werner Haftmann als Protagonist der „militanten Moderne“. Ratlos stand der Kasseler Kunstprofessor Alexis Joachimides vor der Diskrepanz zwischen der Freiheits- Rhetorik des späteren Kunstpublizisten Werner Haftmann und seiner Rolle im NS-System wenige Jahre zuvor.

Keiner Reflexion wert war den Teilnehmern, dass der Kölner Historiker Carlo Gentile jüngst belegt hatte, dass Haftmann während seiner Kriegszeit in Italien an Erschießungen von Partisanen teilgenommen hatte (SZ vom 6.6.2021).

Vor dem Hintergrund dieses weiteren, erschütternden Fundes mutete die Mahnung des Berliner Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz oder von Thomas Rudert von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die Rolle einzelner Protagonisten der documenta nicht allein an ihrer Mitgliedschaft in NS-Organisationen zu festzumachen, seltsam zurückhaltend an.

Stattdessen war ständig von der „Komplexität“ der Situation die Rede und davon, dass es die „Ambivalenz“ der Biographien der an den ersten documenta-Schauen Beteiligten auszuhalten gelte.

Und lässt sich zwischen der Biographie und dem Werk von Kuratoren ein ähnlicher Trennstrich ziehen wie bei Künstlern? Diese Frage warf Justus Lange, Leiter der Kasseler Gemäldegalerie Alte Meister auf. Sarkastisch gewendet: Bis zu wieviel Todesbefehlen gilt das ästhetische Oeuvre eines ehemaligen NS-Mitläufers und späteren Museumschefs als unbelastet?

Wenn es womöglich „weitere Phänomene dieser Größenordnung gegeben hat, von denen wir keine Kenntnis haben und vielleicht auch nie Kenntnis haben werden“, wie Christian Fuhrmeister dem Autor sagte, wäre die naheliegendere Forderung vielleicht gewesen, den Komplex biografische Verstrickung mit noch größerer Vehemenz aufzuarbeiten.

Andererseits hatte auch Nanne Buurman Recht, wenn sie vor der Entlastungsfunktion dieser (notwendigen) Forschung warnte: „Es reicht nicht“, sagte die Kasseler Kunstwissenschaftlerin, „nur mit dem Zeigefinger auf alte, weiße Nazis zu zeigen. Wir müssen auch unsere Praxen heute befragen. Es gibt ja immer noch Antisemitismus und Nazismus“.

Warten wir es ab. Vielleicht knackt ja die DHM-Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ in Berlin ein paar der ungeknackten Kopfnüsse der Kasseler Tagung, die auch prototypisch für die Schwierigkeiten der verspäteten Erinnerungsarbeit steht.