„Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik“. Der Merksatz, mit dem Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen) vergangene Woche die 72. Berlinale eröffnete, klang nach den Satzbausteinen aus dem Poesiealbum der Kulturpolitik. Doch für das 1951 gegründete Filmfestival gilt er ausnahmsweise wirklich. Verstand sich die Berlinale doch immer als politisch und gesellschaftsbezogen.
So auch in diesem Jahr: Von Andreas Dresens Guantanamo-Film „Rabiye Kurnaz vs. George W. Bush“ bis zu Natalia Sinelnikovas Sicherheits-Dystopie „Wir könnten genauso gut tot sein“ reichte das Angebot an kritischen „Perspektiven auf die Gegenwart“, die Roth mit der Förderung des Festivals und des Films als Kunstform beabsichtigt. Die Berlinale verstand sich nie als exklusiv cineastisch, sondern platzierte sich imer an den Schnittstellen und Überlappungszone des Visuellen.
Personeller Beleg dafür war nicht nur, dass die Berliner Filmemacherin und Installationskünstlerin Rosa Barba in der Jury des Kurzfilmpreises saß. Und Hito Steyerl mit ihren beiden Essayfilmen „Die leere Mitte“ (1998) und „Normalität 1-10“ (2001) über Stadtentwicklung in Berlin und alltägliche neofaschistische Gewalt in Deutschland und Österreich in der Sektion Special des „Forum“ der Berlinale auftauchte.
Sinnfällig wurde dieses Verständnis wie immer im „Forum Expanded“ der Berlinale, traditionell der Ort, an dem sich Film und Bildende Kunst zu einer Art drittem Medium, streng avantgardistisch, vermengen. Die 24 Filme und 13 Installationen deckten den critty-polity-Mainstream derzeit ab: Queerness, Postkolonialismus, Kapitalismuskritik.
Nur wenige Streifen wie Liz Rosenfelds „White Sands Crystal Foxes“, welcher eine Welt erfindet, in der sich die Natur den Menschen untertan gemacht hat, arbeiteten dabei mit den Mitteln der Fiktion statt den allgegenwärtigen Dokumentarismen und (Semi)-Reportagen.
Zum wiederholten Mal war in diesem Jahr der britische Architekt Eyal Weizman mit seinem Recherche-Verbund „Forensic Architecture“ eingeladen. Deren Video „77sqm_9:26min“ über die Rekonstruktion des Mordes an dem Kasseler Kiosk-Besitzer Halil Yozgat durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) war zwar nicht neu.
Doch die Präsentation an Filmfestivals oder Biennalen hat den Vorteil, den politisch immer hochbrisanten Ergebnissen dieser Recherchen eine Öffentlichkeit „beyond the legal bubble“ zu erschließen, wie Weizman erläuterte. Womit er eine weitere Facette von Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik beschrieb.