„Wir werden ihre Zungen herausschneiden. Wir werden ihre Köpfe zermalmen“. Recep Tayyip Erdoğan war nicht zimperlich. Als sich die Pop-Sängerin Sezen Aksu im Sommer in einem Song über den Propheten Adam lustig machte, drohte der türkische Präsident mit körperlicher Vergeltung.
Der Mob, der sich nach der Drohung vor dem Haus der Diva der türkischen Musik zusammenrottete, bekam Aksus Zunge zwar nicht. Der Vorfall markierte freilich die Spielräume der Kunst am Bosporus.
Gemessen an der Drohkulisse, die Erdoğan ein Jahr vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2023, dem symbolischen 100. Jahr der Republikgründung, aufbaut, grenzte es an ein kleines Wunder, dass Mitte September die Istanbul-Biennale überhaupt ihre Pforten öffnen konnte.
Die 1987 gegründete Kunstschau ist zwar kein Hort des politischen Widerstandes. Schließlich verdankt sie ihre Existenz dem Mäzenatentum der schwerreichen Unternehmerfamilie Eczacıbaşı und deren Stiftung für Kunst und Kultur (IKSV). Sie setzt jedoch immer wieder kritische Akzente.
2004 nahmen die Kuratoren Vasif Kortun und Charles Esche auf der 8. Biennale die Gentrifizierung in Istanbul ins Visier, 2013 öffnete die kürzlich verstorbene Fulya Erdemci ihre Biennale den Gezi-Protesten. 2017 kuratierte gar das offen schwule Künstlerduo Elmgreen & Dragset die Biennale.
Offene Kritik an den immer repressiveren Verhältnissen finden sich auf der gerade eröffneten, 17. Biennale nicht. Die Zeiten dafür sind vorbei. Doch wer die Zeichen zu lesen verstand, kam auch hier auf seine gesellschaftskritischen Kosten.
Ob es nun die Gezi-Slogans auf den Flaggen der Gruppenperformance des indonesischen Künstlers Arahmaiani waren oder die Funde aus dem 1990 gegründeten Frauenarchiv der Stadt Istanbul, die die Künstlerinnen Merve Elveren und Çağla Özbek in diversen Artspaces ausgebreitet hatten.
Letztlich war auch die Entscheidung von Ute Meta Bauer, Amar Kanwar und David Teh, den Kurato:innen der Biennale, auf eine spektakuläre Großausstellung zu verzichten und die Biennale auf zwölf der Istanbuler Artspaces zu verteilen, ein Versuch, die lokale und internationale Szene zu vernetzen.
Obwohl zunehmend unter Druck sind Kunst und Kultur in der Türkei aber immer noch die Domäne der kritischen Intelligenz, wie selbst Präsident Erdoğan vor ein paar Jahren zähneknirschend zugeben musste.
Seine 2018 lancierte Gegenoffensive in Gestalt der „Yeditepe-Biennale“ für die traditionellen Künste wie Kalligraphie oder Teppichknüpfen, fand jedoch wenig Anklang.
Und wie um zu demonstrieren, dass die unabhängige Kunst nicht aufgibt, geriet die Eröffnungswoche der Biennale zur unerklärten Demonstration der Stärke dieser Szene.
Von einer Revue der türkischen Performancekunst der 90er Jahre im Kunsthaus Salt bis zur feministischen Schau „Mis(s)placed Woman?“ in Osman Kavalas – noch nicht geschlossenen – Artspace Depo reichte die unübersehbare Anzahl von Eröffnungen.
Selbst der 2017 aus dem Amt als Chef des avantgardistischen Kunstverbunds „Salt“ gedrängte Vasif Kortun kuratierte dort eine kleinee Schau der israelischen Künstlerin Nira Pereg zu Sicherheit und Kontrolle im öffentlichen Raum.
Für ein Land, dessen Regierung regelmäßig die LGBTQ+-Märsche niederknüppeln lässt, war es zudem ein Wagnis, dass die kommerzielle Kunstmesse „Contemporary Istanbul“ des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli in ihrem Skulpturenpark die Plexiglas-Statue eines Kindes aufstellte, das eine Regenbogenfahne im Wind bläht.
Die türkische Kunstszene laviert derzeit in einem Patt zwischen Repression und Selbstbehauptung, dessen Ausgang offen ist. Auf der einen Seite lauert Erdoğan. Auf der anderen Seite sichern die großen Industriellenfamilien wie Koç oder Sabancı mit ihren Privatmuseen der Kunst Räume.
Denen folgt neuerdings die Stadt Istanbul. Das stillgelegte Gaswerk „Müze Gazhane“ im liberalen Stadtteil Kadiköy, einer der Standorte der Biennale, ist eines von sechs neuen, in der Türkei beispiellosen, öffentlichen Kunst- und Kulturzentren, mit denen Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CH-Partei der Kunst neue Wirkräume sichern will.
Mit einer Mischung aus Verwunderung und Entsetzen verfolgten Beobachter deshalb eine unerwartete Annäherung. Schon auf dem Empfang der IKSV in Venedig zur Eröffnung des türkischen Pavillons durfte mit Mehmet Ersoy erstmals ein Kulturminister der herzlich verhassten AKP-Regierung eine Rede halten. Zur Eröffnung der Biennale hängte IKSV-Chef Bülent Eczacıbaşı gar Ersoys Stellvertreterin Özgül Yavuz eine Verdienstmedaille um. Man fragt sich wofür.
Ob AKP und IKSV wissen, auf was sie sich da einlassen? Zum Portfolio der Stiftung gehören neben der Biennale, einem Film, Jazz- und Theaterfestival auch eines für die Musik. Jahrein, jahraus singen hier die Zungen, die Präsident Erdoğan den Künstler:innen gern herausreißen würde.