„Man muss sich an die Regeln halten“. Mit diesen Worten reagierte kürzlich der qatarische Cheforganisator der Fußballweltmeisterschaft auf eine Frage des ZDF nach der Lage der LSBTQI*-Community in seinem Land. So als ob es dabei um ein Problem wie die Straßenverkehrsordnung ginge.
Welche Realität sich hinter der scheinbar harmlosen Vokabel „Regel“ verbirgt, zeigt nun Khaled Alesmael. In zehn Episoden zeichnet der syrische Autor ein beklemmendes Bild des Alltags homosexueller Männer in arabischen Ländern zwischen Unterdrückung und Selbstverleugnung.
Da ist der junge Syrer Barada, der von seinem Schwager regelmäßig vergewaltigt wird, weil der findet, dass ihn seine Frau, Baradas Schwester, sexuell nicht ausreichend befriedigt.
Scheinehe und Vergewaltigung
Da ist Matar aus dem syrischen Raqqa, der sich mehr für Penisse als Brüste interessiert, die Flucht aus seiner, von seiner traditionellen Familie arrangierten Scheinehe aber erst wagt, als der Islamische Staat die Stadt 2013 erobert.
Der Name der Gasse in Kairo, in der der junge Kellner Sphinx eines Tages in einem modrigen Hamam landet und das 2014 von der ägyptischen Polizei ausgehoben wird, fungiert als Sinnbild: Bab al-Bahr, das „Tor zum Meer“, das Hoffnung signalisiert, ist eine Sackgasse.
Alesmael war 2018 mit seinem Debüt „Selamlik“ europaweit bekannt geworden. Darin verarbeitete der 1979 in Damaskus geborene Schriftsteller, der heute in London lebt, sein eigenes Schicksal als Schwuler: Die Flucht aus Syrien 2014 über die Balkanroute nach Schweden.
In seinem zweiten Buch greift Alesmael über seine individuelle Biografie hinaus. In den Liebes- als Leidensgeschichten von Männern aus seinem Kulturraum belässt er es aber nicht beim nüchtern-dokumentarischen Report.
Der Autor montiert das in Interviews und Gesprächen Recherchierte in eine hybride Textform. Er lässt die Protagonisten ihre Lebensgeschichte aus einer emotionalen, unmittelbaren Perspektive – Briefen – Revue passieren.
Diese reichert er mit seinen eigenen Reflexionen oder Bruchstücken aus Chatverläufen an. Die Liebe, die Trauer und den Verlust, die seine Protagonisten erfuhren, überführt er dabei in bezwingende, niemals kitschige oder pathetische Metaphern.
Das Leben eines Vogels
„Eine Vorstellung vom Leben eines Vogels, dessen Flügel nur ich sehen konnte. Bei jeder Drehung wuchsen sie mir aus dem Rücken. Ich hob von der Erde ab und ließ meine Last fallen wie einen schweren Regen, der sich in das schwarze Meer unter meinen Füßen ergoss“, lässt Alesmael den Palästinenser Safadi seine Vorstellung von einem anderen Leben erklären. Schon als kleiner Junge kleidet er sich gern als Frau. Nach der Flucht aus Syrien wird er in Berlin Bauchtänzer.
Wenn das Oxymoron „poetisches Sachbuch“ einmal zutrifft, dann in Alesmaels literarisch verdichteten, von Christine Battermann so sensibel wie präzise übersetzten Lebensgeschichten, die ohne diesen Autor unerzählt geblieben wären – Literatur als Akt poetischer Solidarität.
Schwulsein sei ein „geistiger Schaden“, befand der qatarische Funktionär in seinem Interview. In Alesmaels wunderbarem „Ein Tor zum Meer“ bewahrheitet sich dagegen Rosa von Praunheims legendärer Filmtitel „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“.
Khaled Alesmael: Ein Tor zum Meer. Briefe von arabischen Homosexuellen. Aus dem Arabischen von Christine Battermann. Albino, Berlin 2022, 208 Seiten, 22 Euro
Deutschlandfunk Kultur. „Lesart“ vom 16.11.2022