Yurtta Sulh, Cihanda Sulh – Friede in der Heimat, Friede in der Welt. Den Satz rief Mustafa Kemal Atatürk, der Begründer modernen Türkei, erstmals am 20. April 1931 in der Öffentlichkeit aus.
Der ehemalige Berufssoldat des Sultans, der mit seinem Unabhängigkeitskrieg gegen die imperialistischen europäischen Mächte am Ende des 1. Weltkrieges den Bestand des Restreiches gesichert hatte, zog mit dieser Maxime einen Schlussstrich unter die die imperialistisch-expansionistische Außenpolitik des untergegangenen Osmanischen Reiches. Für ihn hatte der Aufbau der neuen Republik Vorrang.
Natürlich war diese faktische Neutralitätspolitik spätestens mit der späten Kriegserklärung gegen Hitler-Deutschland 1945 und mit dem Nato-Beitritt 1952 beendet. Atatürks Motto trugen freilich alle politischen Kräfte, die ihm folgten, weiter wie ein ehernes Mantra vor sich her.
Von kaum etwas könnte seine Republik weiter entfernt sein als von dieser idealistischen Idee. „Operation Klauenschwert“ nennt sich die Offensive, mit der die Türkei seit Mitte November gegen kurdische Stellungen in Syrien und im Irak vorgeht, die fünfte ihrer Art seit 2016. Um die 500 Ziele wurden nach Angaben von Verteidigungsminister Hulusi Akar angegriffen.
Die Luftangriffe richteten sich gegen Stützpunkte der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG), welche die Türkei als syrischen Ableger der PKK ansieht. Von den USA wird die YPG, die bei der Vertreibung der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) aus Syrien eine große Rolle spielte, dagegen unterstützt. Vor allem die kurdische Hochburg Kobanê stand unter Artilleriebeschuss.
Die türkische Offensive begann wenige Tage nach einem Anschlag in Istanbul mit sechs Toten Mitte November, für den Ankara der PKK die Schuld gab. Die verbotene Arbeiterpartei und die syrischen Kurden wiesen jedoch jegliche Verwicklung in den Anschlag zurück.
Dass die Türkei für ihr Vorgehen Paragraph 51 der UN-Charta, das Recht auf Selbstverteidigung, in Anspruch nehmen kann, bezweifeln Expert:innen. Für Andreas Schüller, Leiter des Bereichs Völkerstraftaten European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin bricht Erdoğan das Völkerrecht, so wie er die „territoriale Unversehrtheit“ der Länder missachtet. Inzwischen droht er sogar mit einer Bodenoffensive.
Ankara argumentiert, es wolle eine „Schutzzone“ 30 Kilometer hinein in syrisches Gebiet errichten, um Flüchtende aufnehmen zu können. Letzten Endes will der Präsident aber das kurdische Autonomieprojekt, das in den letzten zehn Jahren im Nordosten Syriens und im Irak entstanden ist, zerstören.
Der grimmige Autokrat fürchtet dessen Vorbildwirkung, insbesondere im kurdischen Südosten der Türkei. Deswegen schreckt er auch vor Angriffen auf zivile Beamte aus der Region nicht zurück.
Faktisch folgt er freilich der fatalen Linie aller türkischen Regierungen seit Atatürk. Ein Krieg, den das Land nie wird gewinnen können. Es sei denn, die Türkei löschte ein ganzes Volk aus.
Als einzige Volksgruppe gingen die Kurden ohne eigenen Staat aus den Friedensverhandlungen nach dem 1. Weltkrieg. Stattdessen blieben sie über den Irak, den Iran, Syrien und die Türkei verteilt. Schätzungen zufolge leben dort heute 30 Millionen Kurd:innen.
Auch wenn es aufgrund dieser brutalen Linie so aussieht. Gänzlich ist die Türkei nicht auf Kriegskurs umgeschwenkt. An anderen Fronten stehen die Zeichen nämlich auf Entspannung. Und bei zentralen, weltpolitischen Konfliktfeldern gefällt sich Erdoğan in einer ungewohnten Rolle.
Drei Jahre zuvor hatte sich der fintenreiche Präsident noch als großer Krawallmacher aufgespielt. Gegen den Willen des Nato-Partners USA setzte er den Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 durch. Und war daraufhin von dem F-35 Kampfjetprogramm der USA ausgeschlossen worden.
Dieser Schaukelkurs, einerseits die Bindung an die Nato nicht aufzugeben, sich regional aber alle (Bündnis-)Optionen offenzuhalten, erweist sich im Ukrainekrieg plötzlich als Vorteil. Erdoğan preist die Nato, verweigert sich aber Sanktionen gegen Russland.
Mit Putin kooperiert er in Syrien, der Ukraine verkauft er Waffen, insbesondere die wichtigen TB 2-Drohnen, entwickelt von dem Baykar-Konzern seines Schwiegersohns Selçuk Bayraktar. Mit ihrem Einsatz gelang der Ukraine etwa die Rückeroberung der Schlangeninsel im Südwesten.
Plötzlich steht der Präsident, der mit seinem aggressiven Auftreten wegen der Schürfrechte für Öl und Gas zudem alle Anrainerstaaten der Ägäis gegen sich aufgebracht hatte, international als großer Vermittler da.
Schon im März bot er Istanbul als Ort für direkte Gespräche zwischen Russland und der Ukraine an. Als letzten Erfolg konnte er im Juli das Abkommen mit Russland präsentieren, das den Export von Getreide aus der Ukraine sicherte.
Die Ausnahme von Erdoğans partieller Deeskalationsstrategie ist das Verhältnis zu Griechenland. Es ist ein revisionistisches Syndrom im Spiel, wenn der Präsident den 1923 im Vertrag von Lausanne gezogenen Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern rhetorisch aufkündigt und die griechische Souveränität über Inseln wie Rhodos, Lesbos, Rhodos, Samos, Chios und Ikaria in Frage stellt.
Es ist noch nicht lange her, dass in der Türkei Karten des Staatsgebietes im Netz zirkulierten, die bis zum griechischen Thessaloniki und Varna in Bulgarien reichten.
Erdoğan verband dies stets mit Attacken auf den türkischen Verhandlungsführer in Lausanne, Ismet Inönü, Atatürks engen Kampfgefährten und späteren Staatspräsidenten. Der türkisch-griechische Grenzstreit ist auch ein Stellvertreterkrieg gegen den säkularen Kemalismus und seine Gründerväter.
Jedenfalls: Mal lässt Erdoğan Kampfjets über den Inseln aufsteigen. Mal muss als Begründung die Stationierung griechischer Truppen auf ihnen herhalten. Vor wenigen Tagen eskalierte er den Streit mit der Drohung „Wir könnten eines Nachts kommen“ Griechenland gar mit dem Beschuss der neuen türkischen Tyfun-Rakete.
Wenn Erdoğan behauptet: „Wir haben dort Werke, Moscheen und Geschichte“ stilisiert er sie, ganz der Ultranationalist, dann wieder zu Kernstücken türkischer Identität.
Im Kern geht es freilich um wirtschaftliche Interessen. Die Expedition des mit der türkischen Flagge geschmückten Forschungsschiffs „Abdulhamit Han“ wegen der Gasvorkommen in der Ägäis eskortierte in diesem Sommer die türkische Armee.
Mit der Mischung aus Kooperation und Konfrontation geht es Erdoğan letzten Endes darum, die Rolle seines Landes als Regionalmacht zu wahren.
Schon der damalige Ministerpräsident und spätere Staatspräsident Turgut Özal (1983-1993) verfolgte diesen Strategiewechsel von der atatürkschen Neutralität und der strategischen Westbindung hin zu diesem Ansatz.
Erdoğans früherer außenpolitischer Berater, Außenminister, Ministerpräsident und heutiger innenpolitischer Gegner Ahmet Davutoğlu lieferte mit seinem Buch „Stratejik Derinlik – Strategische Tiefe“ 2001 dann die intellektuelle Blaupause dafür.
Die Türkei solle, schrieb er, zu ihrer „historischen und geographischen Identität“ zurückfinden, ihre historischen und kulturellen Wurzeln in den Nachbarregionen anerkennen.
Diese multipolare und proaktive Ausrichtung der türkischen Außenpolitik mit ihrem neuen Interesse für den Nahen Osten, den Kaukasus, Zentralasien und den Balkan, konkretisierte Davutoğlu 2012 mit Vermittlungen zwischen Syrien und Israel, Bosnien und Serbien, Armenien und Aserbaidschan im Bergkarabach-Konflikt und im Dialog mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad.
Zugleich kompensierte die Türkei mit diesem selbstbewussten Auftreten die fünfzigjährige Zurückweisung ihres Strebens nach einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union, was ihr prompt den Vorwurf des Neo-Osmanismus eintrug.
Diese Strategie der Kooperation und Deeskalation unter dem Stichwort „zero problem policy“ (mit den türkischen Nachbarn) scheiterte spätestens seit dem Arabischen Frühling 2010.
Mit seiner Parteinahme für die ägyptische Muslim-Bruderschaft und die islamischen Parteien in Tunesien, Libyen und Marokko, glaubte Erdoğan sich an die Spitze dieser Bewegung setzen zu können.
Nach deren Scheitern laviert er zwischen den Fronten, um seine regionalen Ambitionen zu retten und den schiitischen Iran zu isolieren. Erdoğan schrumpfte vom eingebildeten Hegemonen zum getriebenen Bittsteller.
Während der Fußballweltmeisterschaft umarmte er in Qatar den ägyptischen Präsidenten as-Sisi, der seinen Glaubensbruder Mohammed Mursi in Kairo weggeputscht hatte.
Deswegen traf er im April Saudi-Arabiens Machthaber Bin Salman, den mutmaßlichen Auftraggeber des Mordes an dem Journalisten Jamal Kashoggi 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul, in Dschidda und empfing ihn zwei Monate später gar im Präsidentenpalast in Ankara.
Deshalb reaktivierte er die diplomatischen Beziehungen mit Israel, die nach Erdoğans antisemitischen Ausfällen gegen den damaligen israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum 2009 und einem Zwischenfall im Mittelmeer ein Jahr später auf Eis lagen.
Deswegen reiste er in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), deren neue Allianz mit Israel seine eigene Rolle zu relativieren droht.
Diese Initiativen folgen vor allem dem Druck des wirtschaftlichen Niedergangs in der Türkei, deren Inflationsrate unaufhörlich auf die 90 Prozent-Marke zusteuert. Prompt kündigten Saudi-Arabien, Qatar und die VAE kündigten Milliarden-Investitionen und Einlagen in die türkische Zentralbank an.
Ob diese Hilfe Erdoğans Aussichten in den bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2023 verbessern wird, steht genauso dahin wie der Versuch, die Stimmen der Nationalisten und seinen rechtsextremen Koalitionspartner, die MH-Partei unter ihrem martialischen Führer Devlet Bahçeli an sich zu binden.
Dieses Motiv steht ebenso hinter der Bombardierung der Kurden wie hinter der Drohung des Präsidenten, den längst beschlossenen Beitritt von Finnland und Schweden zur Nato zu verhindern. Der Schritt benötigt die Zustimmung aller Mitglieder der Militärallianz. Beiden Ländern wirft er vor, Anhänger der PKK zu schützen.
Erdoğans vor vielen Jahren lanciertes Ziel, die Türkei zum Republik-Jubiläum am 29. Oktober 2023 unter die zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt zu katapultieren, ist in weite Ferne gerückt. Der Bloomberg-Index zählt sie stattdessen zu den fünf „most miserable economies“ der Welt.
Das „Jahrhundert der Türkei“, welches der Präsident im Oktober seinem Wahlvolk dennoch trotzig prophezeite, droht, ein Jahrzehnt des Niedergangs zu werden.
Die politische Polarisierung vor den Wahlen in der Türkei schreitet voran. Parlamentarier seiner AK-Partei brachten einem Oppositionsabgeordneten kürzlich in der türkischen Nationalversammlung während einer hitzigen Debatte eine Kopfverletzung bei.
Selbst wenn der Krieg in der Ukraine mit der Vermittlung Erdoğans beendet würde, könnte es im glorreichen Jubiläumsjahrheißen: „Friede in der Welt – Krieg in der Heimat“.