„Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt“. Das hat nicht August Bebel gesagt, sondern sein Zeitgenosse Henrich Zille. Das Mietskasernenelend des proletarischen „Milljöhs“ am Ende des 19. Jahrhunderts, das der legendäre Künstler mit dem Spruch anprangerte, existiert zumindest im Berlin des 21. Jahrhunderts zwar so nicht mehr.
An Cholera, Typhus und den Blattern, wie es Friedrich Engels in seinen Schriften zur Wohnungsfrage beklagte, sterben Mieter:innen der deutschen Hauptstadt nicht mehr reihenweise. Wiewohl es natürlich auch heute noch so „infame Schweineställe“ (Engels) wie damals gibt.
Aber die „Wohnungsfrage“ unserer Tage ist zu einer ähnlichen sozialen Zeitbombe geworden wie das Wachsen des Proletariats am Ende des Kaiserreichs. Was sich nicht nur an den rasant steigenden Obdachlosenzahlen und den Zeltlagern des Lumpenproletariats unter Brücken und S-Bahn-Bögen, vor Supermärkten und in Sparkassen ablesen lässt.
Berlin hat seit den 2000er Jahren einen ebenso rabiaten wie konzertierten Angriff des internationalen Investmentkapitals auf einen, infolge von 40 Mauerjahren relativ günstigen Wohnungsmarkt erlebt. Die Axt, mit der die anonymen Pensionsfonds, Anlagefonds und Briefkastenfirmen, die die dieses lukrative Terrain planmäßig aufrollten, dessen Nutznießer bis heute erschlagen, heißen Mietsteigerung und Umwandlung in Eigentumswohnungen.
„Diese Stadt lässt Dich machen“ – in ihrem neuesten Werbefilm beutet eine Berliner Biermarke einmal mehr das mythische Charisma von der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten aus. Derweil flüchtet sich das unbotmäßige Kreativvölkchen auf das der Spot zielt, ins Umland, weil es die lustigen Orte, an denen er gedreht wurde, nicht mehr bezahlen kann oder von der öden Investarchitektur a la Mercedes-Benz-Arena am Spreeufer plattgemacht wird.
Es ist diese kaum verhüllte Gier des frei flottierenden, globalen Finanzkapitals, das zum Volksentscheid am 26. September 2014 geführt hat. Dabei hatten sich bekanntlich 59,1 Prozent der Abstimmenden dafür ausgesprochen, profitorientierte Wohnungsunternehmen wie die Deutsche Wohnen oder Vonovia, in Gemeineigentum zu überführen.
Es gehörte schon einige Chuzpe von SPD-Spitzenfrau Franziska Giffey dazu, ausgerechnet diese urbanen „Würgeengel“ (Friedrich Engels) zu Partnern für ein „Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen“ auszurufen. Die ideologische Augenwischerei bestand darin, eine sozialpartnerschaftliche Symmetrie zu suggerieren, die nicht existiert. Der Fall des Milliardärs Nicolas Berggruen steht dabei pars pro toto. Kaum hatte er sich in der Stadt mit ein paar Vorzeigeprojekten das Image des Kulturfreunds zugelegt, warf er seine Mieter:innen reihenweise aus ihren Wohnungen und Ateliers.
Es steht paradigmatisch für die Lage der linken Volkspartei, dass sie die „Expropriation der Expropriateure“ wie der Teufel das Weihwasser scheut, die die Theoretiker der Arbeiterbewegung von Karl Marx über August Bebel bis Otto Bauer propagierten. Selbst Kevin Kühnert wollte ja mal BMW kollektivieren. Stattdessen bemüht Giffey das Gewissen, das schwieg, als sie bei ihrer Doktorarbeit schummelte, um diese Initiative zu verhindern.
Lassen wir das Moralargument einmal beiseite, hinter dem sich eine ähnliche Entideologisierung von Politik verbirgt wie hinter der stereotyp wiederholten Formel „Das Beste für Berlin“ – als ob es nicht um die soziale Gestaltung der Stadt gegen deren Gegner ginge.
Lassen wir auch die Ablehnung eines demokratischen Mehrheitsvotums für eine in der Verfassung vorgesehene Maßnahme beiseite. Den Profiteuren des größten anzunehmenden Wohnungsproblems seit dem 2. Weltkrieg will Giffey nun gar noch Steuererleichterungen gewähren, um den Wohnungsbau anzukurbeln.
So hartnäckig, wie sich Giffey gegen ein ursozialdemokratisches Politikprojekt verwahrt, fragt man sich langsam: Von wem wird diese Frau bezahlt? Von der SPD? Den Steuerzahler:innen? Oder der Immobilienwirtschaft? Primus – dem „Immobilienentwickler im Luxussegment“, der die SPD mit einer Spende von verdächtigen 9.999 Euro bedachte, dankte sie mit den Worten: „Sie können mich bei Fragen oder Anregungen gerne direkt ansprechen“.
Auch nach der Wahl bleibt die Rhetorik auffällig: Kein Tag vergeht ohne neue Beispiele von Verdrängung und Entmietung – einer anderen Form von Enteignung. Doch der jetzt vorgestellte Koalitionsvertrag mit der CDU sorgt sich um die „schwierige und krisenhafte Rahmenbedingungen in der Bauwirtschaft“ – kein Wort über die existenzielle Gefährdung Tausender Mieter:innen.
Im schwarz-roten Koalitionsvertrag fehlen klare Regelungen zu ihrem effektiven Schutz, neue Ideen zum Mietendeckel oder dem vom Bundesverwaltungsgericht kassierten Vorkaufsrecht. Dem zwielichtigen Karstadt-Investor René Benko soll dagegen der Weg bereitet werden. Giffey als Bausenatorin zu nominieren, hat da eine gewisse Logik. Die Projektentwickler für die geplante Randbebauung des Tempelhofer Feldes werden sich die Hände reiben.
Der zügigen Umsetzung des Enteignungsbeschluss des Volksentscheides versuchen die Koalitionäre mit dem Ankauf von Wohnungen das Wasser abzugraben. Was teurer würde als die Überführung von Gemeineigentum. Sollte die eingesetzte Expert:innenkommission doch grünes Licht dafür geben, soll das „Vergesellschaftsungsrahmengesetz“ aber erst zwei Jahre nach Verabschiedung in Kraft treten.
Die SPD-Spitze säuselt von einer „Koalition für alle“. So massiv wie die Spitze der Sozialdemokratie für die Besserstellung der Expropriateure Front macht, fühlt man sich eher an Friedrich Engels“ Diktum von 1872 erinnert: „Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten …nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht“.
Man kommt sich vor wie ein Steinzeit-Marxist. Aber bei der Politik, der die SPD in der „Wohnungsfrage“ den Weg bereitet, fällt einem leider kein anderes Wort ein als das verstaubte Totschlag-Argument altlinker Dogmatiker: „Klassenverrat“.