Am vergangenen Sonntag kam die erlösende Nachricht. Alle inhaftierten Teilnehmer des Friedensmarsches „I am walking for Peace“ sind frei. Ende Dezember hatte sich ein Häuflein Unverzagter auf den 1500 Kilometer langen Weg von Bodrum an der Ägäis in das von türkischen Sicherheitskräften belagerte Diyarbakir im Südosten der Türkei gemacht. Darunter waren die bekannten türkischen Künstlerinnen Pinar Ögrenci und Atalay Yeni.
„Der einzige Weg, diesen Krieg, Tod und Zerstörung zu beenden, die wir in diesen Tagen erleben, ist der, unsere Forderung nach Frieden noch lauter, gemeinsam und mutig zu erheben und in Solidarität mit den Menschen der Region zu stehen“ hatten sie ihren Appell im Internet begründet.
In der kurdischen „Hauptstadt“ angekommen, hatte die Gruppe gegen die Ausgangssperre in dem Nachbarort Sur demonstriert. Die Reaktion kam prompt. Am 31. Dezember nahm die Polizei 24 der Marschierer fest.
Kann man aus der Tatsache, dass einem Richter im Südosten die Beweislage für den Vorwurf, die Friedensbewegten hätten die Polizei mit selbstgefertigtem Sprengstoff attackiert, zu dürftig vorkam, schließen, dass die Demokratie in dem Land am Bosporus vielleicht doch nicht ganz abzuschreiben ist?
Dilek Kurban sieht das nicht so. „Es gibt in der Türkei keine Demokratie, es hat nie eine gegeben“ resümierte die junge Juristin und Politologin, derzeit Fellow der Hertie School of Governance, wenige Tage nach der Freilassung in der Berliner Humboldt-Universität die Situation in ihrer Heimat.
„Demokratie in der Türkei am Scheideweg?“, die Frage, die die Stiftung Mercator über ein Podium am Mittwoch geschrieben hatte, ist für die türkischen ExpertInnen, die es bestritten, nichts als ein Euphemismus. Für sie hat die Türkei diesen Rubikon längst überschritten. Ihre Argumente sind schwer von der Hand zu weisen: Lässt man die Einparteien-Diktatur unter Staatsgründer Atatürk einmal beiseite.
Kriegsrecht, Sondervollmachten für Staatsorgane, Straffreiheit für deren Verbrechen begleiteten die Türkei seit ihrer Gründung. Gut 3000 Opfer hat die jüngste Jagd auf kurdische „Terroristen“ bislang gefordert, 17 gewählte Bürgermeister sind in Haft. Nicht zu vergessen der niedergeschlagene Gezi-Aufstand und die inhaftierten Journalisten.
Man muss schon sehr viel Glauben in die demokratischen Selbstheilungskräfte haben, wenn man glaubt, diesem Staatsterrorismus einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ abringen zu können wie Barış Çakmur von der Middle East Technical University in Ankara.
Zumal die konservative Mehrheit der Türken einverstanden scheint mit dem immer autoritäreren Regime Erdoğan. Das Prinzip auf dem es fußt, ist freilich kein genuin türkisches.
Spätestens seit dem Krieg gegen den Irak 2003 hat sich in der internationalen Politik eine Kultur der Rechtlosigkeit etabliert, die ihre willigen Nachahmer überall auf der Welt findet. Und auf lange nur durch eine andere Kultur überwunden werden kann. Wer (nicht nur in der verheerten Türkei) die „politische Gesellschaft wiederaufbauen“ (Çakmur) will, muss auf moralische Werte setzen: Würde, Respekt, Freiheit. Sie sind nur wechselseitig zu haben.