„Soldaten sind Mörder“. Wer heute wiederholt, was Kurt Tucholsky 1931 in der „Weltbühne“ schrieb, muss noch immer mit einem Aufschrei der Empörung rechnen. Schließlich gilt Landesverteidigung immer noch als Ehrendienst.
Matthias Enards Roman „Der perfekte Schuss“ kommt wie der Versuch daher, Tucholskys Spruch zu belegen. Denn der Soldat, der in seinem Mittelpunkt steht, versucht gar nicht, sein todbringendes Handwerk mit einer höheren Moral zu legitimieren.
Das Werk spielt in einem unbestimmten Kriegsgeschehen zu unbestimmter Zeit. Es gibt keine gute oder böse Seite in dem Konflikt. Der Ich-Erzähler arbeitet als Scharfschütze an vorderster Front und sichert den Vormarsch der Truppen seines Landes ab.
An vorderster Front
Kaltblütig nimmt er, meist von einem vorgeschobenen, aber sicheren Beobachtungsposten gegnerische Soldaten ins Visier. Manchmal knallt er auch einfach ohne Grund Lebewesen ab.
Den ersten feindlichen Soldaten erschießt er „aus einer Art Neugier“. Mal trifft es dann eine Katze, mal einen Falken im Beuteflug, mal eine junge Frau im Morgengrauen, ohne dass ersichtlich wird, warum.
Im Gegensatz zu den manchmal barock ausufernden Vorgängerwerken Enards ist sein 2003 erstmals in Frankreich veröffentlichter Roman ein Muster an Sprachökonomie: Kalt, effizient, zielsicher.
Dieses Werk ist selbst wie ein tödlich sitzender Schuss. Es gibt keinen überflüssigen Satz, kein entbehrliches Wort in ihm.
Der ledige Ich-Erzähler agiert zwar wie ein kaltblütiger Killer. Doch es sind die Umstände, die ihn nach dem Tod seines Vaters jung zum Soldaten gemacht haben.
Im Grunde seines Herzens sehnt er sich nach „Behaglichkeit und Ruhe wie in einer echten Familie“, wenn er nach einem Einsatz in die Wohnung zurückkommt, wo er mit seiner, irre gewordenen Mutter lebt. Kein Wunder, dass er „Ruhe und Professionalität“ als „die sichersten Verbündeten“ des Tötens betrachtet.
Trotz der teils unvorstellbaren Grausamkeiten und des unaufhörlichen Tötens ist Enards Buch kein Pamphlet gegen den Krieg. Es diskreditiert an keiner Stelle den Beruf des Soldaten aus einer moralischen Perspektive.
Dafür ist sein Protagonist zu sehr von seinem Tun überzeugt. Selbst wenn er einmal Gewissensbisse hat, weil er einen Kameraden erschießen muss, stellt er das ständige Töten nie in Frage.
Wie eine sanfte Droge
Was dieses Buch zu einem einzigartigen, atemberaubenden, von Sabine Müller kongenial übersetztem Meisterwerk macht, ist, wie der Ich-Erzähler einen verhängnisvollen Selbstlauf nachvollziehbar macht.
Mag sein Töten anfangs noch einen legitimen Grund gehabt haben. Irgendwann führt das Handwerk des Grauens dann doch an den Punkt, der dem namenlosen Soldaten eines Tages durch den Kopf geht, als er sich eine Art Philosophie seiner Obsession zurechtlegt.
„Das Schießen“ resümiert er, „ist wie eine sanfte Droge, man will immer mehr davon, immer schönere Treffer, immer schwierigere“. Gleich zu Beginn des Romans dekretiert er, das Gewehr müsse „Teil deines eigenen Körpers werden“.
Es ist diese Konditionierung, die es ihm unmöglich macht, normale menschliche Beziehungen einzugehen.
Deswegen scheitert auch sein Werben um Myrna, dem 15 Jahre jungen Mädchen, das er engagiert, um seine Mutter während seiner Einsätze zu betreuen und in das er sich verliebt.
Ein Soldat, so ließe sich Enards aufwühlende Parabel lesen, kann auch zum Mörder werden, ohne selbst zu töten.
Matthias Enard: Der perfekte Schuss. Roman. Aus dem Französischen von Sabine Müller. Hanser Berlin, 192 Seiten, 24 Euro
Deutschlandfunk Kultur, Dienstag, 21.3.2023