Habe vor ein paar Tagen die Lektüre von Fritz J. Raddatz’s Tagebüchern der Jahre 1982-2001 beendet. Der legendäre Feuilletonist der „Zeit“, ist schon ein echter Ästhet. Der Mann, der 1980 wegen eines peinlichen Goethe-Zitats über den Frankfurter Hauptbahnhof seinen Posten als Feuilletonchef der „Zeit“ räumen musste, versucht seine Existenz als Gesamtkunstwerk zu inszenieren. Der Edel-Prekarier, der immer über das mangelnde Geld klagt, frühstückt morgens im Wintergarten seiner Hamburger Wohnung von einer Tischdecke aus weißer Seide unter einem Orchideenbaum zu Mozartmusik. Auf dem Weg zu seiner Ferienwohnung auf Sylt hört er im Porsche Rachmaninoff. Und verzweifelt an alten Schulkameraden, die nicht wissen, was Avocados sind, nicht mit dem Fischbesteck essen können, noch nie eine Auster gesehen haben und den Namen Botero nicht kennen.
Natürlich kennt man diese Verwunderung über ein „Leben ohne Farbe, Form und Reiz“ (Raddatz) aus dem eigenen Umfeld. Die den Tagebuch-Schreiber (und uns) meist im Urlaub überfällt: „So viele häßliche Menschen, grauenhaft gekleidet, meist nackt oder halbnackt den Strand verseuchend, „Vati“ schon morgens um zehn vor dem Skat sein 1. Bier kippend, „Mutti“ mit Hängetitten und Rucksack: ein Graus“ notiert er im Dezember 1996 im Urlaub auf Gran Canaria. Man kann sogar noch verstehen, dass ihm die „Agressivität und Hep-Hepp-Mentalität der Kleinbürger“ nicht gefällt. Wenn Raddatzens Klage nicht so einen ekligen Soupcon gegen die einfachen Leute hätte. Während seines Urlaubs auf Lanzarote ächzt er: „Tatsächlich ist das „freizeitgekleidete Publikum, Tankstellenpächter, Schraubengeschäftbesitzer und Vorstadtfriseure, kaum zu ertragen, ich habe gar nicht gewußt, wie viele Menschen schlichtweg nicht in der Lage sind, mit Messer und Gabel zu essen.“
Die fehlende Ästhetik im Leben ist die eine, die in der Politik eine andere Sache: Nach seiner Eröffnungsrede zu den Schwetzinger Festspielen im darauffolgenden Mai löst ein Spaziergang durch den dortigen Schloßgarten „Gedanken über Macht-Herrschaft-Schönheit aus; warum ist Demokratie fast immer häßlich?“ Dass Demokratie häßlich sein muss, weil eben so viele divergierende Interessen nur unter Zwang unter einen ästhetischen Hut zu bringen wären, muss man Raddatz vielleicht sagen, der ja schon eher in der Parallelgesellschaft des elitären Kulturbetriebs zu Hause ist, der sich gern etwas auf sein Formbewußtsein einbildet. Aber muss man einem historisch so beschlagenen Mann wirklich erklären, welche Spuren der „Stilwillen“, den er für die Kunst und das Leben einfordert, in Deutschland hinterlassen hat, als die Nazis sich zu dem Ästhetizismus aufschwangen, den Raddatz in der Politik und am Strand vermisst?