Ist Jakob Augstein ein Antisemit? Die Frage klingt einigermaßen absurd. Doch wer sich die jüngst veröffentlichte Liste der zehn übelsten Antisemiten der Welt, herausgegeben vom Simon-Wiesenthal-Center in Los Angeles, anschaut, wird nicht schlecht gestaunt haben. Der Verleger der Wochenzeitung Freitag, Mitgesellschafter des Spiegel und ubiquitäre Fernsehintellektuelle auf einer Liste mit dem iranischen Präsidenten und Holocaust-Leugner Mahmoud Ahmadinejad, dem Chef der rechtsextremen ukrainischen Svoboda-Partei Oleg Tyagnibok und dem amerikanischen Rassisten Louis Farrakhan, dem Führer der afro-amerikanischen Bewegung „Nation of Islam“.
Absurd ist diese Liste, weil Augstein, wie jeder leicht nachprüfen kann, weder jemals behauptet hat, dass Juden krumme Nasen haben, am Pessachfest kleine Kinder opfern oder über den Umweg der Wallstreet nach der Weltherrschaft streben. Er hat keinen arabischen Diktatoren mit Sonnenbrillen auf antizionistischen Kongressen in Teheran die Hand geschüttelt. Und hat auch niemandem erlaubt, in seinem Blatt Tiraden zur Auschwitz-Lüge zu verbreiten.
Er hat nur einige Kommentare geschrieben, die sich zwar außerordentlich kritisch mit der Politik der israelischen Regierung von Benjamin Netanjahu auseinandersetzen. Doch nach diesem Kriterium hätte das Wiesenthal-Center auch die amerikanische Außenministerin Hillary R. Clinton auf seine schaurige Liste setzen können. So deutlich, wie diese die jüngste Entscheidung der Regierung Netanjahu kritisiert hat, den Siedlungsbau in Ostjerusalem fortzusetzen.
Man sollte meinen, dass all das auch das Wiesenthal-Center wissen müsste. Schließlich hat es einen Ruf als respektiertes jüdisches Menschenrechtsforum zu verlieren. Insofern kann man nur spekulieren, was es bewogen haben könnte, Augstein derart spektakulär an diesen weltweit sichtbaren Pranger zu stellen. Nur an der Fürsprache des deutschen Journalisten Henryk M. Broder kann es nicht gelegen haben. Ein Anruf in Deutschland hätte genügt, um herauszufinden, dass der Welt-Journalist seine besten Tage als Verteidiger der Aufklärung und verlässlicher Feuermelder für antisemitische Umtriebe hinter sich hat. Es ist ein bisschen waghalsig für ein renommiertes Mitglied der globalen Zivilgesellschaft, das sich dem Kampf gegen den Hass verschrieben hat, sich ausgerechnet auf Broders, durch keinerlei Beweise gestützte Polemik gegen Augstein als „antisemitischer Dreckschleuder“ zu berufen.
Hat das Center Angst, dass in einem Deutschland, in dem Rassismus und Antisemitismus nachweislich in der bürgerlichen Mitte angekommen sind, sich dort nun auch noch das Gift des Antiisraelismus breitmacht? Dann wäre der Affront gegen den Träger eines berühmten Namens als Signal an die politische und intellektuelle Elite in Deutschland zu verstehen, diese Strömung nicht weiter unbehelligt gewähren zu lassen.
Oder wollte das Center einen Paradigmenwechsel einleiten? Um langfristig einen erweiterten Begriff von Antisemitismus durchzusetzen. Einen, der es erlaubt, jedwede Kritik an einem, auch international immer stärker unter Druck geratendem Land mit einem Begriff abzuwehren, zu dessen Kennzeichen eigentlich der Rekurs auf biologistische und rassistische Stereotypen gehört? Dann wäre die Liste ein Zeichen der Schwäche, weil sie auf die ganz große moralische Keule, auf den catch-all-Begriff setzt. Und Augstein wäre nur das Versuchsfeld für diese gefährliche diskursive Wende.
Spekulationen – wie gesagt. Fest steht aber, dass es dem weltweiten Kampf gegen Antisemitismus, Hass und Terrorismus schadet, wer Israelkritik und Antisemitismus so ineins setzt wie das Wiesenthal-Center. Noch dazu, wenn es – aus Gründen der globalen Massenwirksamkeit – mit einer derartig plakativen Mischung aus Hitparaden-Ästhetik und Verbrecheralbum arbeitet, wo eigentliche begriffliche Feinarbeit und Differenzierung vonnöten wären. Es lässt sich dann nämlich das Eine vom Anderen nicht mehr unterscheiden.
Es ist nicht nur ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit, einen kritischen Publizisten gegen diese Anwürfe in Schutz zu nehmen. Das Bestehen auf Genauigkeit und Unterscheidung und der Kampf gegen die Inflationierung des Antisemitismus-Vorwurfs sind auch unerläßliche Generaltugenden für alle, die beim Kampf gegen das geistige Gift des Judenhasses nicht nachlassen wollen.