Nach den Kommunalwahlen in der Türkei, so erzählte es dieser Tage der türkische Schriftsteller Murat Uyurkulak, habe er sich erst einmal drei Tage betrunken und seinen Twitter-Account aufgelöst. Fassungslos und verzweifelt reagierten nicht nur Erdogan-Gegner in der Türkei auf den Urnengang Ende März. Und wie es nun weitergehen soll am Bosporus, konnte ihnen vergangenen Mittwoch auf einer Konferenz der Friedrich-Stiftung in Berlin auch niemand so recht sagen.
Zwar stimmte es hoffnungsfroh, dass mit Gülseren Onanç nun eine toughe Unternehmerin im Parlament sitzt, die ihre nationalistisch verknöcherte Oppositionspartei CHP “entschieden sozialdemokratisch” reformieren will. Dass Meral Beştaş in der Peace and Democracy-Partei (BDP) die Fahne der Frauenrechte hochhält. Und sie in Cansel Kiziltepe eine sympathisch linke SPD-Ansprechpartnerin im Deutschen Bundestag haben. Gegen ihren AKP-Kollegen Osman Can wirkten diese Frauen trotzdem seltsam defensiv.
Der drahtige 44jährige mit melierten Schläfen, Designerbrille und modischem Anzug, der während der Konferenz pausenlos in sein ultralightes Notebook tippte, passte so garnicht in das Bild, das man sich hierzulande von Erdogans AK-Partei macht. Vielmehr wirkte der Istanbuler Rechtsprofessor, der in Köln studierte, wie ein Musterexemplar der neuen “sozial-kulturellen Mittelschichten”, in denen der Journalist Etyen Mahçupyan, Kolumnist der Zeitung “Zaman” oder Osman Akçay, Chefökonomist der Yapi Kredi-Bank, die soziale Basis für den Wahlerfolg der AKP sehen: Individualisiert, gebildet, moderat religiös.
Zwar griff der smarte Can mit seinem Vergleich des zentralistischen Staatsmodells der alten Türkei mit der “Gleichschaltung der Nazis nach 1933” gefährlich daneben. Und sein Plädoyer für “mehr Partizipation” der bislang “ausgegrenzten Identitäten”, wie “Kurden, Aleviten, Homosexuellen und LGBT” klang einigermaßen perfide, wenn man sieht, wie sein “undiplomatischer” Ministerpräsident demokratische Partizipationsbegehren regelmäßig mit Tränengas und Gummiknüppeln erstickt.
Aber die Mischung aus geschliffener Rhetorik und differenzierter Analytik, mit der das AKP-Vorstandsmitglied, das auch im Verfassungskomitee seiner Partei sitzt, für eine Verfassungsreform warb, frappierte. Wenn in der Türkei diese coolen Kader eines Tages den Berserker Erdogan beerben, wird Murat Uyurkulak lange trinken müssen.