„Wir lassen uns unsere Documenta nicht nach Athen wegnehmen“. „Die schöne alte alte Idee, an einem einzigen Ort, die Kunst der Welt zusammenzubringen, ist verloren“. Misst man sie nur an der Empörung in Politik und Feuilleton, dann darf man die jüngste Entscheidung der Documenta, das Mekka der Kunst im Jahr 2017 an den südosteuropäischen Rand Europas zu transferieren, schon mal einen vollen Erfolg bezeichnen.
Die alle fünf Jahre wiederkehrende Großveranstaltung gleicht einem liebgewordenen Ritual, zu dem die Kunstwelt pilgerte, wie weiland die prähistorischen Sonnenanbeter nach Stonehenge: Um einen tiefen, schweigsamen Kotau vor dem Wahren, Schönen, Guten abzulegen. Eine Diskussion über Sinn und Zweck dieser profanen Andacht im expandierten Territorium Artis war überfällig. Allein dafür, er die latente Skepsis zur manifesten gemacht zu haben, darf man dem 41 Jahre alten Kurator, zuvor zehn Jahre Museumsdirektor in Basel, dankbar sein.
Ganz so revolutionär, wie sie klingt, ist Szymczyks Versuch, einen Mythos zu deterritorialisieren, nicht. Denn schon Okwui Enwezor, der Kurator der Documenta 11 im Jahr 2002 war mit seinen „Plattformen“ in Wien, Berlin, Neu Delhi, St. Lucia und Lagos der nordhessischen Provinz entflohen. Und Carolyn Christov-Bakargiev war vor zwei Jahren war mit ihrer Documenta 12 nach Alexandria am Nil, ins afghanische Kabul und ins kanadische Banff gezogen. Warum also Kassel, den Olymp der Kunst, nicht temporär nach Athen verlagern? Der Aufschrei in der Kasseler Lokalpolitik klingt wie das trotzige Motto der deutschen Nachkriegs-Revanchisten: Zweigeteilt? Niemals! Aber abgesehen davon, dass ein Teil der Schau in Kassel verbleiben wird. Gute Kunst zielt immer auf die ganze Welt. So gesehen reichte jede der 13 Documentas bisher geistig über die kleine Stadt hinaus, in der sie stattfanden. Wer sie auf einen Ort festnageln will, hat sie – nach 59 Jahren Documenta! – offenbar als bengalisches Feuer zur Illumination einer Heimatkulisse oder als liebgewordenes Möbel des Stadtmarketing missverstanden. Die bewusstseinserweiternden Langzeitwirkungen des Events werden wohl doch überschätzt.
Trotzdem fragt sich, ob Szymczyk mit seiner Idee nicht einen entscheidenden Standortvorteil aufgibt. Denn gerade aus der Dialektik von provinziellem Ort und universellem Anspruch bezog das Kasseler Ereignis seine Wirkung. Ai Weiweis 1001 Chinesen in Kassel, seine eingestürzte Tür-Skulptur „Template“ entfalteten ihre ästhetische Kraft vor der Kulisse des hessischen Mittelgebirge. Athen lockt mit der Aussicht auf ein reizvolles Experiment. Dessen Kehrseite allerdings die Gefahr ist, zur Stecknadel im Heuhaufen einer Millionenmetropole zu schrumpfen.
In Szymczyks Idee kulminiert die wachsende Skepsis gegen den Anspruch, die Welt der Kunst vom europäischen Hochsitz aus zu ordnen. Nicht erst mit der Globalisierung sind neue Zentren der Kunst in Afrika, Asien und im Nahen Osten entstanden. Das Repräsentationsbedürfnis jenseits der transatlantischen Moderne ist gewaltig. Streng genommen ist aber auch die Stadt in der nordhessischen Provinz eine Art Inkarnation von Peripherie. Insofern ist sie nicht der falscheste Ort für diejenigen, die bislang am Rande standen. Doch wer schon das selbstgerechte Zentrum das Fürchten kehren will, sollte selbst auf regionale Diversität achten. In Szymczyks Kasseler Mannschaft findet sich kein(e) einzige(r) nichtweiße(r) Kurator(in) aus China, Afrika oder Asien. Im europäischen Parlament wäre der Erste Kurator mit dieser Repräsentationspolitik durchgefallen.
Bleibt das Argument Athen: Zu Recht sieht Szymczyk die Stadt als Kulminationspunkt der „wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Dilemmas, mit denen sich Europa heute konfrontiert sieht“: Der globalen Finanzkrise, dem Scheitern der politischen, ökonomischen und bürokratischen Klasse, dem Kollaps der sozialen Infrastruktur. Wenn er die „neue Dringlichkeit“ der Gründungsidee der Documenta aber auf diesen Ort projiziert, parallelisiert er allerdings zwei unterschiedliche Dinge. In Kassel ging es 1955 um ästhetischen Wiederaufbau, die Versöhnung mit der von den Nazis geschmähten Moderne und Avantgarde. In Athen dagegen geht es um den politischen, sozialen und ökonomischen Wiederaufbau.
Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, die Kunst zum großen Ratschlag über die ganz große Krise zu bewegen. Doch wenn er die Documenta als „aktives Werkzeug der Transformation“ beschwört, lauert dahinter die zwiespältige, in 1000 Biennalen zu Tode gerittene Idee einer politisch und sozial eingreifenden Kunst. Szymczyks Konzept läuft Gefahr, als politische Solidaritätsgeste wahrgenommen zu werden, wo ästhetisch-kreative Konzentration notwendig wäre. Und die funktioniert – der große Vorteil der Kunst – ortsunabhängig. Sein Argument: „Das Leben ist anderswo“ bürdet die Kunst die Last einer forcierten Zeitgenossenschaft aus nächster Nähe auf, wo Distanz ästhetisch ertragreicher sein könnte. Nichts ist falscher als die Idee, das Feuer, das die Welt verzehrt, ließe sich nur analysieren, beschreiben, gar löschen, wenn man mitten in ihm sitzt.
Manche von Szymczyks Argumente sind Leckerbissen für Intellektuelle: Wer würde, wenn er der Documenta einen Rollenwechsel vom Gastgeber zum Gast verordnen will, nicht sofort an Derridas Überlegungen zu Gabe und Gastfreundschaft, Ökonomie und Zeit denke – das genaue Gegenteil der Troika-Politik? Wenn Szymczyk die „passive kulturelle Haltung“ beklagt, mit der heute Kunst konsumiert wird, wird er traditionell kulturkritisch. Und wenn er dieses große, leuchtende Bild „Documenta“ in zwei Bilder aufteilen will, die von den Medien und der Kulturindustrie nicht mehr so einfach instrumentalisiert werden können, verfällt er in die mittlerweile reichlich steril gewordene Klage über Débords „Gesellschaft des Spektakels“.
Man fragt sich auch, was den Medienkritiker geritten hat, die große Documenta-Bombe jetzt schon zu zünden. Eigentlich passt es nicht zu dem zurückhaltenden und reflektierten Mann, dass er auf einen schönen Nebeneffekt geschielt haben könnte: Maximale Aufmerksamkeit, auf allen Kanälen, gute drei Jahre, bevor die Schau beginnt.