Die Welt anders wahrnehmen lernen. Die klassische Antwort vieler Kunstliebhaber auf die Frage: „Was kann die Kunst?“ reicht Philipp Ruch nicht. Als Mitstreiter des von dem Berliner Regisseur gegründeten „Zentrums für politische Schönheit“ im letzten November die weißen Kreuze, die in Berlin das Gedenken an die Mauertoten wachhalten, „entführten“, um an das tödliche Schicksal der Flüchtlinge an den EU-Grenzen zu erinnern, war das ein Signal: Kunst muss praktisch werden, sie muss Menschenleben retten.Von Christoph Schlingensief über Rimini Protokoll bis zu Pussy Riot. Ruchs spektakuläre Aktion ist nur ein Beispiel für das seit einiger Zeit grassierende Bedürfnis, mit Kunst direkt in die (politische) Realität zu intervenieren. Was das Berliner Hebbel am Ufer vor zwei Jahren bewog, diesem zyklisch wiederkehrenden „Begehren nach Relevanz“ auf den Grund zu gehen.
Gemessen an dem Ziel der zehn Diskussionen zu „Phantasma und Politik“ seitdem: Die Frontstellung „Autonomie der Kunst“ versus einer „Kunst in gesellschaftlicher Verantwortung“, die dieser Boom so mit sich bringt, produktiv zu wenden, dürfte diese Strategie gescheitert sein. Denn das Podium „Das Recht der Kunst“, das die Reihe am Mittwochabend beschloss, zeigte, dass in der Kunstwelt ein überwunden geglaubtes Schisma wieder auflebt: Agitprop- beziehungsweise Politästhetik auf der einen – die berühmt-berüchtigte „l’art pour l’art“-Kunst auf der anderen Seite.
Nicht, dass die Kunst, die sich mit Politik verwechselt, keine Ästhetik hervorbrächte. Als der niederländische Künstler Jonas Staal 2012 in seinem „New World Summit“ die politischen Organisationen zu einer Konferenz in den Berliner Sophiensälen versammelte, die auf der Blacklist des transatlantischen „war on terror“ standen, machte das den Versuch, dem exklusiven Repräsentationsregime der westlichen Demokratien „alternative Parlamente“ entgegen zu stellen, auch ästhetisch sinnfällig.
Nichts gegen Propagandakunst. Nichts gegen Interventionsstrategien. Nichts gegen politischste Politkunst. Nichts gegen Dokumentarismen oder realistischsten Realismus. Sie sind ein ganz legitimer Bestandteil des Arsenals der Künste. Das Problem ist nur der ideologische Druck, der derzeit aufgebaut wird, um das Revival solcher Strategien durchzuboxen. Jonas Staal bedient sich dabei besonders gern einer schneidenden Rhetorik.
Der Niederländer hatte sich schon einen Monat zuvor, ebenfalls im Berliner HAU, im Rahmen eines von der Bundeskulturstiftung geförderten Kongresses, daran versucht, einen weltweiten Dachverband der Initiaven namens „Artist Organisations International AOI)“ zu gründen, die sich diesem Konzept auf die eine oder andere Weise verschreiben. Sein Argumentationsmuster ist stets gleich: Weil die politische Lage (Postdemokratie, Überwachung, Kriege, Klimawandel) so bedrohlich ist, müssen die Künstler endlich Partei ergreifen, den Elfenbeinturm verlassen und so weiter. Oft genug fühlte man sich an die realsozialistische Losung: „Steh nichts abseits, Genosse!“ erinnert. Am Mittwoch erklärte Staal die Kunst zum „space of transformation“, der politisiert werden müsse.
Die Fragen bei diesem massiven Vorgehen liegen auf der Hand: Steht demnächst jede Kunst, der es eher um ästhetische Strategien geht, unter Formalismus-Verdacht? Muss sie sich als „feige“ bezeichnen lassen, nur weil sie nicht das „Erbe der Aktionskunst“ antreten will, das Philipp Ruch beschwor? Und wer entscheidet, wann „illegale Maßnahmen“ (Ruch), in Gestalt intervenierender Kunstaktionen notwendig sind, die „Verbrechen gegen die Menschheit“ (Ruch) verhindern sollen?
Solange sie nicht beantwortet sind, besteht der begründete Verdacht, dass der Berliner Kunsttheoretiker Helmut Draxler mit seiner Skepsis nicht ganz falsch liegt. In Staals „Rhetorik der Dringlichkeit“ und Ruchs emphatisch, aber weitgehend theoriefrei vorgetragener Idee einer „moral beauty“ sah der Initiator der „Phantasma“-Reihe, ein ausgewiesener Linker und langjähriger Direktor des Münchener Kunstvereins, eine problematische Mischung aus Selbstermächtigungsfantasien und „Hippiekitsch“.