Wann, Entschuldigung, kommt ein Mythos eigentlich in die Jahre? Die Frage klingt widersinnig. Mythen sind bekanntlich unsterblich. Aber irgendwie ist der Techno-Tempel Berghain ja schon ein solcher. Für den Philosophen Ernst Cassirer kreiert der Mythos den „Augenblicksgott“, zielt auf die „Solidarität mit allem Lebendigem“. Und, Hand auf’s Tattoo, welche Definitionen könnten die Gefühle besser beschreiben, die jeden durchfahren, der die Selektion zum „besten Club der Welt“ übersteht: Verzückung, Glück, Hysterie.
Vielleicht kommt der Mythos in die Jahre, wenn er auf sich selbst zurückschaut und von der unmittelbaren zur differenzierten Weltsicht übergeht. War es nicht genau das, was Ende September auf der Berghain-Tanzfläche vor sich ging? Vier Elder Statesmen des Nachtlebens unterhalten sich über die Geschichte der legendären Location und ihrer Besucher. Im Mittelpunkt dieses diskursiven Exzesses steht dann auch noch ein Buch – gleichsam die Ultima Ratio der (Selbst-)reflexivität.
Ein gerade erschienener Band „Berghain. Kunst im Klub“ (Hrsg. Berghain Ostgut. Texte von Jens Balzer, Dorothée Brill, Thomas Meinecke u.a., Gestaltung Yusuf Etiman. Hatje Cantz, Ostfildern 2015, 208 S., 218 Abb., 37 Euro) versammelt Geschichten, Essays und Gespräche über „10 Jahre Berghain“ und dokumentiert die zwei Kunstausstellungen, die in dem 2004 gegründeten Haus stattfanden: „Kubus“ 2011 und „10“ im Jubiläumsjahr 2014.
Der Künstler und Berghain-Gänger Piotr Nathan, Jahrgang 1956, ließ zwar gleich zu Beginn der Diskussion – nicht nur sprichwörtlich – die Hosen herunter, um zu demonstrieren, worum es in der Kultstätte pulsierender Gegenwart sonst noch so geht. Und für den Maler Norbert Bisky, Jahrgang 1970, sah das Berghain, im Gegensatz zu anderen Clubs, nach zehn Jahren immer noch „so frisch“ aus. Ansonsten hatte die Diskussion etwas Ältliches. Was nicht nur daran lag, dass auf dem, von dem Popkritiker Jens Balzer, Jahrgang 1969, geleiteten Podium, eine (jüngere) Frau fehlte.
Thomas Meinecke, Jahrgang 1955, belebte die 70er Jahre Idee von dem Club als Ort, der die Rechte temporär realisiert, die einem die Welt da draußen noch vorenthält. Und pries die Clubkultur als „Bürgerrechtsbewegung in Schönheit“. Als ob diese seltsam unfassbare Ressource nicht heute zur Leitwährung einer labelgesteuerten Ökonomie vernutzt wäre.
Doch abgesehen davon, dass das Berghain, allem Sex&Snax zum Trotz, heute gleichsam zur Staatsoper der Berliner Republik geworden ist, so wie es zur Referenzgröße der etablierten Häuser der Hauptstadt avancierte. 2008 inszenierte Barry Kosky August Strindbergs „Traumspiel“ für das Deutsche Theater im Berghain. Und nicht umsonst verlegte das Staatsballet Berlin die Uraufführung seines Balletts „Masse“ 2013 in eine Halle des Berghain. Und als die Hollywood-Schauspielerin Claire Danes dieser Tage verwirrende Angaben darüber machte, mit welchen nackten Tänzern sie vergangenes Wochenende nackt getanzt und dabei Eis gegessen hatte, wurde klar: Das Berghain ist längst ein must der internationalen Celebrities.
Was die Körperpraktiken, die hier gepflegt und die, die in der neoliberalen Ökonomie gefordert werden, noch unterscheidet, blieb auf dem Podium unerörtert: permanente Selbstoptimierung und der Exzess als Stimulus des Kreativkapitalismus. Natürlich war das Berghain der Pionierort, wo man lernen konnte, „entspannt schwul“ (Norbert Bisky) zu sein. Und „schul und hetero auf dem Dancefloor zusammen“ finden, wie Piotr Nathan unter großem Beifall befand.
Dieses Moment von Widerstand und Befreiung hat sich in dem Maße in die queere Subkultur verlagert, wie das düstere Heizkraftwerk zum beliebten Ausflugsort heterosexueller Mittelschichten samt ihrer Eltern mutierte („das müsst ihr gesehen haben„. In der Geschichte des Berghain realisiert sich die symbolische Inkorporierung einer devianten Kultur in die der Mehrheit.
Insofern ist die Selbstfeier mit Kunst(buch), in die zehn Jahre Berghain nun mündeten, nur folgerichtig. Mögen die Werke, die am Freitag noch einmal besungen wurden, auch „Spuren gewesener Freuden“ (Thomas Meinecke) sein: Ein zertretener Tanzteppich bei Norbert Bisky, bekritzelte Klappentüren bei Piotr Nathan. Für Ernst Cassirer markiert auch die Kunst das Ende des Mythos. Schafft sie doch „Distanz zur Welt“.