Ein emotionsloser, durchdringender Blick hinter den dreckigen Fenstern eines Hauses. Kaum ein Werk demonstriert das Motiv des Doppeldeutigen, das die 15. Istanbul-Biennale durchzieht, besser als „Life Track“ – das Video des georgischen Künstlers Vajiko Vhachkiani. Treibt den langsam näherkommenden Mann in dem Bungalow Interesse oder Abwehr? Will er uns begrüßen, Angst machen, auf die Finger schauen? Kann man diesem leicht verwahrlosten Nachbarn mit fettigen Haaren trauen?
„A good neighbour“ – das scheinbar banale Motto, das Elmgreen & Dragset für ihre erste Biennale als Kuratoren wählten, ist nicht das befürchtete Appeasement mit dem System Erdoğan geworden. Zwar klang die Idee der Künstler, die Besucher sollten sich „jenseits des binären Codes pro oder contra Erdoğan“ verorten können, einigermaßen luxuriös, ja zeitenthoben in einem Staat, der so an der Schwelle zur Ein-Mann-Diktatur steht. In dem seit über einem Jahr der Ausnahmezustand herrscht. Und der missliebige Künstler wie die Malerin Zehra Doğan oder den Schriftsteller Doğan Akhanlı mit Gefängnis bedroht. Doch die Sprache des Metaphorischen fast aller Werke der 56 KünstlerInnen aus 32 Ländern entwickelt eine ganz eigene, unterschwellige Brisanz.
Die Kuratoren demonstrieren ihre Zentralidee schon über die Ausstellungsorte: Einem privaten Apartment, einer Villa, einem Hamam. Gegen die beziehungsreich und dicht inszenierte Greek School in Karaköy, in der Pedro Gómez-Egana mit einem sich bewegenden Wohnzimmer die Erosion der Idee von Heim und Nachbarschaft sinnfällig macht, fallen die Parcours in den privaten Kunstmuseen Istanbul Modern und Pera Müzesi ab. Die Biennale weicht aber keineswegs politischen Konflikten aus.
Latifa Echakhch zum Beispiel: Die blätternden Freskos von Gesichtern und Szenen des Gezi-Aufstands 2013, die die marokkanische Künstlerin auf zwei gegenüberliegende Betonwände im Istanbul Modern aufgetragen hat, symbolisieren das allmähliche Verblassen einer Hoffnung. Der türkische Künstler Alper Aydın hat in eine andere Ecke gerodete Bäume hinter die Kralle eines Baggers gestopft. Ein deutlicher Hinweis an den Raubbau an der Natur, den der riesige dritte Flughafen im Istanbuler Norden bedeutet.
Und Mahmoud Khaleds “Proposal for a Memorial for a Crying Man” ist angesichts des immer orthodoxeren Klimas in der Türkei schon ein Wagnis. Selbst wenn der ägyptische Künstler dieses fiktionale Museum im liberalen Stadtteil Cihangir, nicht weit von Orhan Pamuks „Museum der Unschuld“ eingerichtet hat. Der Parcours darin konstruiert das Istanbuler Exilleben eines der Männer, die die Kairoer Polizei 2001 bei einer Razzia in einem schwulen Disco-Schiff auf dem Nil festnahm. Gleichsam nebenbei „queert“ er den Kemalismus. Denn die modernistische Villa im Bauhaus-Stil aus den 30er Jahren, in der ihn Khaled arrangiert, ist von der Ferienresidenz „Marine Mansion“ des Staatsgründers Atatürk auf der See am Istanbuler Strand Florya inspiriert.
Für das eigentliche, subversive Potenzial dieser Biennale steht aber Candeğer Furtuns „Untitled“. Das Werk 82jährigen Istanbuler Künstlerin von 1996 ist ein Paradebeispiel dafür, mit dem Privaten nach dem Politischen zu fragen. Neun männliche Beinpaare ohne Oberkörper sitzen in klassischer manspread-Pose nebeneinander auf der Bank eines gekachelten Baderaums. Auf eins der Beine stützt sich machtbewusst eine Hand. Ein sprechendes Bild für Geschlechterverhältnisse, aber auch für den Umgang der Türkei mit ihren acht Nachbarn.
Monika Bonvincinis straff mit schwarzen Gürteln umspannte Steinquader im Caldarium des Küçük Mustafa Paşa Hamam, im erzkonservativen Stadtteil Balat, fragt nach ganz individuellen Körperregimen. „Belt out“ ist aber auch ein Symbol für das religiöse Korsett der männlich dominierten, islamischen Autokratie, auf die sich nun auch die Türkei rasant zubewegt – so wie die Arbeit das Bild der Kaaba in Mekka aufnimmt. Es ist dieser doppelte Sinn der Bilder, der das Gespür für Unfreiheit vielleicht mehr schärft als noch so viele Amnesty-Plakate.