Weltoffenes Deutschland oder Bastion des Abendlandes? Regierungsbildung oder Konterrevolution? Rachefeldzug oder politische Kooperation? Worum geht es derzeit eigentlich in Berlin?
Wenn Alexander Dobrindt lieber mit Viktor Orban, Sebastian Kurz und Heinz Strache eine konservative Kulturrevolution in Szene setzen will, warum schützt die SPD dann nicht ihre ideologischen Außengrenzen, bricht die Sondierungen mit der Union ab und schiebt insbesondere Angela Merkel vor diesen Knoten?
Hinter den Sirenengesängen von einer „stabilen Regierung“, die CDU-Politiker in diesen Tagen anstimmen, verbirgt sich eine ziemlich durchsichtige Umarmungsstrategie. Die gute alte Tante SPD soll mit dem Euphemismus „staatspolitische Verantwortung“ stillgestellt werden. Derweil Herr Dobrindt seine „konservative Revolution der Bürger“ vorbereitet. Und die letzten Rentner der gefährlichen 68-er-Fraktion aus der „sozialistischen Mottenkiste“ entsorgt.
Fraglich, ob die harmlose, verzagte Truppe diese Mühe wert ist. Das Ende des Spiels ist für die Genoss*innen freilich absehbar. Nach spätestens zwei Jahren dürfte ein mutmaßlicher Vizekanzler Martin Schulz wie eine Mischung aus Reichspräsident Friedrich Ebert und Reichskanzler Hermann Müller aussehen: Ausgelaugt, zermürbt, als „ehrloser Geselle“, „Vaterlandsverräter“ und „Verzichtspolitiker“ geschmäht.
Alexander Dobrindt ist uns bislang nicht als Intellektueller aufgefallen. Schwer zu sagen, was er mit der bedeutungsvollen Tautologie „konservative Bürgerlichkeit“ wirklich meint. Warum die nun zur „Revolution“ rufen soll. Wo doch schon die der 68-er so viel Schaden angerichtet hat. Und ob er sie von der „konservativen Revolution“ eines Armin Mohler unterscheiden kann, der den Zusammenschluss von enttäuschten Liberalen und Sozialisten als Vorstufe des Faschismus sah.
Derart pathetische Fanale aus der Feder von hornbrillenbewehrten Berufspolitikern haben meist auch etwas Belustigendes. Bekanntlich endete ein ähnlicher Versuch der Trendwende, Altkanzler Helmut Kohls „geistig-moralische Wende“ von 1980, als ziemlich unrühmlicher Spendenskandal.
Wir könnten also gelassen sein. Freilich – ganz ausdrücklich ohne den einen mit dem anderen vergleichen zu wollen – auch Adolf Hitler wurde anfangs intellektuell nicht für voll genommen. Auch er hat sich sein „Mein Kampf“ in den analogen Mustöpfen der völkischen Wahnideen zusammengekübelt. Bis er die Honoratioren konservativer Bürgerlichkeit, die ihn und seine Revolution „einbinden“ sollten, hinwegfegte.
Mit seiner geborgten Rhetorik macht sich ausgerechnet der Ex-Minister für grenzüberschreitende Mobilität – gewollt oder ungewollt – zum Scharnier zwischen den Diskursen des klassischen Bürgertums und der Neuen Rechten. Die seit den späten 80-er Jahren darauf hinarbeitet, mit ihren Leitbegriffen die kulturelle Hegemonie im bürgerlichen Lager zu erlangen.
„Der Mensch beherrscht nicht mehr einen Raum als Territorium, weil er von überall kommt, also von nirgendwo“ ventilierte schon 1982 der französische Publizist Pierre Krebs, einer ihrer Vordenker, die neurechte Kampfansage an den heimatlosen Universalismus, „der Mensch gehört nicht mehr einem Ort, einer Herkunft, einer Geschichte und somit einer Kultur, einem Schicksal und einer Macht an“. Gegen die Ideologie der Gleichheit der Französischen Revolution und ihrer späten Nachfolger in der Frankfurter Schule oder den 68-ern setzte er das perfide „Grundrecht auf Verschiedenheit“.
Als Wegbereiterin einer Euro-Nationalen Front der starken Hand, der postmodern getarnten Xenophobie und der sozialen Hierarchie sollte sich die SPD aber zu schade sein. Wann, wenn nicht jetzt, wäre Ihre Stunde gekommen, sich als glasklare Alternative zur fahrlössig herbeigeredeten Kernschmelze rechts aufzubauen? Mit einer großen Koalition der Heimatapostel von Dobrindt bis Gabriel dürfte das kaum gelingen.
Mit dem „Bollwerk der Demokratie“, das Martin Schulz an dem denkwürdigen Wahlabend im vergangenen September versprach, schon eher.