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Was bedeutet eigentlich die Imprägnierung der documenta durch den Nationalsozialismus? Seit den Enthüllungen zu den NS-Verstrickungen einiger Gründerväter der 1955 von Arnold Bode gegründeten Weltkunstschau steht die Kunstwelt vor den Trümmern eines Mythos.
War das vielgerühmte Bekenntnis zur Moderne bloß inszeniert? Versuchten sich die documenta-Macher damit von ihrer eigenen Schuld reinzuwaschen? Und was bedeutet das für die Zukunft der Schau?
Eine endgültige Antwort auf diese Fragen fand auch die Hybrid-Tagung „Opfer oder Täter? Thesen zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Kuratoren der ersten documenta“ letzten Freitag nicht. Mit der Konferenz der Kasseler Kunsthochschule und des documenta-Archivs versuchte vielmehr das Kunstestablishment dort den Eindruck zu zerstreuen, in der documenta-Stadt würde nicht genug getan, den brisanten Komplex selbst aufzuarbeiten.
Die NSDAP-Mitgliedschaft des documenta-Chefideologen Werner Haftmann hatten der Oxforder Historiker Bernhard Fulda und Julia Friedrich vom Kölner Museum Ludwig herausgefunden. Bei der Aufarbeitung der politischen Geschichte kam der documenta das Deutsche Historische Museum (DHM) zuvor, als es 2019 eine Ausstellung dazu ankündigte.
Haftmanns SA-Mitgliedschaft hatte der Berliner Soziologe Heinz Bude und seine Frau, die Schriftstellerin Karin Wieland, kürzlich auf eigene Faust recherchiert. Da blieben den Diskutierenden, die der Kunstprofessor Kai-Uwe Hemken und Birgitta Coers, seit Oktober 2020 Direktorin des documenta-Archivs, eingeladen hatten, nicht viel mehr, als Detailfragen.
Christian Fuhrmeister vom Münchener Zentralinstitut für Kunstgeschichte konstatierte den „Einbruch der Zeitgeschichte in das Refugium der Ästhetik“. Mit dem Kunsthistoriker Eckhard Gillen stritt er sich darüber, ob Haftmanns Idee einer gemäßigten Moderne aus den dreißiger Jahren, aus der nach Gillen die documenta 1 formte, nicht doch völkische Untertöne beherbergte.
Heinz Bude wiederholte seine schon andernorts ventilierte These von Werner Haftmann als Protagonist der „militanten Moderne“. Ratlos stand der Kasseler Kunstprofessor Alexis Joachimides vor der Diskrepanz zwischen der Freiheits- Rhetorik des späteren Kunstpublizisten Werner Haftmann und seiner Rolle im NS-System wenige Jahre zuvor.
Keiner Reflexion wert war den Teilnehmern, dass der Kölner Historiker Carlo Gentile jüngst belegt hatte, dass Haftmann während seiner Kriegszeit in Italien an Erschießungen von Partisanen teilgenommen hatte (SZ vom 6.6.2021).
Vor dem Hintergrund dieses weiteren, erschütternden Fundes mutete die Mahnung des Berliner Antisemitismus-Forscher Wolfgang Benz oder von Thomas Rudert von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, die Rolle einzelner Protagonisten der documenta nicht allein an ihrer Mitgliedschaft in NS-Organisationen zu festzumachen, seltsam zurückhaltend an.
Stattdessen war ständig von der „Komplexität“ der Situation die Rede und davon, dass es die „Ambivalenz“ der Biographien der an den ersten documenta-Schauen Beteiligten auszuhalten gelte.
Und lässt sich zwischen der Biographie und dem Werk von Kuratoren ein ähnlicher Trennstrich ziehen wie bei Künstlern? Diese Frage warf Justus Lange, Leiter der Kasseler Gemäldegalerie Alte Meister auf. Sarkastisch gewendet: Bis zu wieviel Todesbefehlen gilt das ästhetische Oeuvre eines ehemaligen NS-Mitläufers und späteren Museumschefs als unbelastet?
Wenn es womöglich „weitere Phänomene dieser Größenordnung gegeben hat, von denen wir keine Kenntnis haben und vielleicht auch nie Kenntnis haben werden“, wie Christian Fuhrmeister dem Autor sagte, wäre die naheliegendere Forderung vielleicht gewesen, den Komplex biografische Verstrickung mit noch größerer Vehemenz aufzuarbeiten.
Andererseits hatte auch Nanne Buurman Recht, wenn sie vor der Entlastungsfunktion dieser (notwendigen) Forschung warnte: „Es reicht nicht“, sagte die Kasseler Kunstwissenschaftlerin, „nur mit dem Zeigefinger auf alte, weiße Nazis zu zeigen. Wir müssen auch unsere Praxen heute befragen. Es gibt ja immer noch Antisemitismus und Nazismus“.
Warten wir es ab. Vielleicht knackt ja die DHM-Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ in Berlin ein paar der ungeknackten Kopfnüsse der Kasseler Tagung, die auch prototypisch für die Schwierigkeiten der verspäteten Erinnerungsarbeit steht.