Hand aufs Herz: Eine klammheimliche Freude dürfte nicht wenige beschlichen haben, als sie die Nachricht vom angeblichen Putsch in der Türkei auf ihren Smartfons vorfanden. Die Vorstellung, dass der stolze Diktator vom Bosporus, aus einem Fotoautomaten zum Volkssturm in Istanbul aufrufen muss. Der Gedanke, dass das autoritäre Großmaul in Berlin oder Teheran um Asyl bettelt, wie es die Gerüchte wissen wollten – diese Bilder hatten etwas Erheiterndes. Der rituelle Stoßseufzer vieler Freunde in der Türkei: „Kann der nicht einfach mal tot umfallen, einfach weg sein?“ schien sich zu erfüllen.
Selbst die Teile des Militärs ließen sich verstehen, die diesen Aufstand wagten. Die Idee eines“ Peace Council“ als Übergangsautorität, der Wiederherstellung „der demokratischen und säkularen Ordnung ohne Ansehen von Rasse, Religion oder Geschlecht“ und das Versprechen auf eine „neue Verfassung“ – all das klang nicht nach dem Programm einer reaktionären Junta, sondern nach der Rettung genau dessen, was die Demokraten in der Türkei seit Erdoğans Machtantritt 2002 bedroht sahen: Demokratie, Menschen- und Minderheitsrechte.
Dennoch war der Putsch der falsche Weg. Auf dramatische Weise hat er nur das demokratische Defizit der Türkei unterstrichen: Die Schwäche der Zivilgesellschaft und das Fehlen einer wirkungsmächtigen, populären politischen Opposition, die sich so auf alternative, säkuläre, demokratische Symbole versteht wie der charismatische Erdoğan auf islamische. Vier Staatsstreiche in der Türkei bislang haben die Dinge nicht zum Besseren gewendet. Sie haben vielmehr tiefe Spuren der Entmündigung in der politischen Kultur des Landes hinterlassen.
Den Glauben an die starke Hand, die im Moment der Gefahr alles richtet. Diesen Glauben hat nicht erst Recep Tayyip Erdoğan begründet, sondern Mustafa Kemal Atatürk. „Ich habe entschieden, dass die Türkei eine autoritäre Republik ist, die von einem mit der umfassendsten Exekutivvollmacht ausgestatteten Präsidenten regiert wird“ beschied der 1923 das Parlament. Aus diesem Circulus vitiosus hat sich das Land bis heute nicht befreit.
Schwer zu sagen, was schlimmer ist: Dass die Putschisten Erdoğan einen Vorwand geliefert haben, die Daumenschrauben der Diktatur noch stärker anzuziehen als jetzt schon. Dass sie ihm das letzte fehlende Argument für sein „Präsidialsystem“ frei Haus geliefert haben; dass nämlich nur ein autoritärer „Führer“-Staat die Republik „beschützen“ kann. Oder dass Sie ihm den Nimbus des Unverletzbaren, Unbesiegbaren, Gottähnlichen beschert haben.
Am 17. September baumelte Adnan Menderes, der erste, frei gewählte islamische Ministerpräsident der Türkei am Galgen. Recep Tayyip Erdoğan, sein ideologischer Wiedergänger, entsteigt dagegen jeder noch so tödlichen Gefahr wie Phönix aus der Asche, im tadellos sitzenden Anzug, das Staatswappen im Knopfloch, das ungeliebte Atatürk-Porträt im Rücken. Nach diesem Putsch ist er auch ein „Kriegsheld“ wie sein Vorgänger nach der historischen Schlacht von Gallipoli, bei der er 1915 den Vormarsch der Briten auf Istanbul verhinderte.
Von jetzt an werden die AKP-Gefolgsleute Erdoğan noch glühender wie den „geliebten Propheten“ selbst anbeten, dem zu folgen Erdoğan bei jeder noch so zweifelhaften Aktion vorgibt. Der mythische Status, den er immer erstrebte, ist ihm jetzt sicher. Egal, ob er 2023, dem 100. Jahr der Republikgründung, noch im Amt ist oder nicht.
Erdoğan ist nun endgültig die Reinkarnation des sprichwörtlich gewordenen, unbesiegbaren Osmanen, in deren Tradition er sich sieht und deren Erbe er ständig beschwört. Gegen dieses mythische Wunderkind dürfte in der nächsten Zukunft erst einmal kein politisches Kraut mehr gewachsen sein.