Wikileaks und die Folgen
Hillary Clinton im Smalltalk mit Ban Ki-moon, George W. Bush herzt Angela Merkel, ein lächelnder Barack Obama trifft Hamid Karzai. Im Fernsehen und vor Kameras zeigt Politik gern ihre Schokoladenseite: Lächelnde Staatsmänner, die sich gegenseitig ihrer Wertschätzung versichern und von „my good old friend“ faseln, wenn sie insgeheim im Grunde glauben, dass ihnen gerade ein unfähiger Widerling gegenübersteht, mit dem endlich mal Tacheles geredet werden müsste. Was die Staatsschauspieler besprochen haben, geht die Regierten dann aber nichts an. In der Regel wird die Öffentlichkeit im Anschluss an solche Begegnungen mit nichtssagenden Statements oder den üblichen Floskeln abgespeist. Besonders beliebt ist der Satz, man habe „beiderseits interessierende Fragen erörtert“. Und: „Das Gespräch verlief herzlich“.
Seit Cablegate gehören diese wohlinszenierten Fiktionen der Vergangenheit an. Gott sei Dank, wird man sagen dürfen. Denn im Grunde war uns immer schon klar, dass die amikale Fassade der Macht, die da zur Schau gestellt wurde, gespielt war. Mehr als einmal dürften wir uns gefragt haben, was die, die da aufeinander trafen, wirklich voneinander denken. Und man versteht die Aufregung, die in Washington jetzt ausgebrochen ist, nicht. Jeder dürfte geahnt haben, dass hinter den Türen der Botschaften und des Oval Office Klartext geredet wird. Dass das Offensichtliche jetzt offen liegt, ist schon gut so.
Denn warum eigentlich, fragt man sich, sollte die Öffentlichkeit auch nicht erfahren, dass die amerikanischen Diplomaten den afghanischen Ministerpräsidenten für korrupt oder den österreichischen Kanzler für eine Niete halten, der nicht an Außenpolitik interessiert ist. Im Grunde ist man den Amerikanern dankbar dafür, dass sie so rundheraus sagen, dass Günther Oettinger nur deswegen EU-Kommissar in Brüssel geworden ist, weil die deutsche Kanzlerin einen lästigen Konkurrenten loswerden wollte. Mag Angela Merkel auch noch so oft behaupten, es sei die Wirtschaftskompetenz des glücklosen Mannes gewesen. Und der Eindruck, dass diese Frau selbst hartnäckig, aber unkreativ ist, wie US-Botschafter Philip D. Murphy herausgefunden haben will, ist uns in mancher stillen Stunde durchaus schon selbst gekommen.
Den Amerikanern wirft man oft knallharte Realpolitik vor. Einen Vorteil hat dieser, von Männern wie Henry Kissinger oder George Shultz zu zynischer Perfektion getriebene Ansatz. Er gründet sich ganz offenbar auf realistische Einschätzungen. Wir sind froh, dass wir dieses „Herrschafts“-Wissen nun mit unseren Repräsentanten teilen dürfen. Für die politische Kultur ist es kein Schaden, dass die Internationale Diplomatie als Kultur der kalkulierten Lüge und der bewussten Doppelbödigkeit enttarnt worden ist. Wikileaks markiert eine Urszene der internationalen Diplomatie, hinter die es kein Zurück gibt, mag sie auch bald wieder mit Engelszungen reden, das ganze Repertoire ihrer salomonischen Rituale aufbieten und die Türen der abhörsicheren Hinterzimmer wieder zu schließen versuchen. Jeder kennt jetzt die Differenz, die sich zwischen Auftreten und Denken auftut.
Natürlich sind die bilateralen Beziehungen zwischen Staaten nicht mit der Freundschaft zwischen Menschen vergleichbar. Dennoch könnte diese Veröffentlichung eine ähnlich heilsame Wirkung haben wie ein Streit zwischen Freunden, die sich einmal gründlich die Meinung sagen: Danach weiß man wenigstens, woran man ist. Selbst wenn manche der sogenannten Informationen aus den Tausenden Dokumenten, die jetzt im Netz zirkulieren, vielleicht nur höchst vorläufige Meinungen und Vorurteile sind, zu denen es begründete Gegenmeinungen geben könnte. Grundsätzlich ließe sich auf die neue Situation ein Satz von Ingeborg Bachmann anwenden: Die Wahrheit ist nicht nur den Menschen, sie ist auch der Demokratie zumutbar.
Beängstigender als der scheinbare „Geheimnis“-Verrat ist der Umgang mit seinen Urhebern. Amazon kickt Wikileaks vom Server, plötzlich werden, mir nichts, dir nichts, unliebsame Websits gesperrt. Und amerikanische Politiker fordern ernsthaft die Hinrichtung des Gründers der Organisation, Julian Assange. Der mag von Größenwahn, Sensationsgier getrieben und auch sonst eine schillernde Persönlichkeit sein. Doch die Jagdszenen, die sich jetzt um ihn abspielen, spotten der amerikanischen Selbstbeschreibung als Demokratie und „home of the brave and the free“. Auch die Tatsache, dass der Mann in Großbritannien, der Wiege der parlamentarischen Demokratie, nur noch aus dem Untergrund mit den Lesern des „Guardian“ chatten kann, zeigt eine ungeahnt hässliche Seite der sogenannten freien Welt.
Man sollte sich die Bilder gut einprägen. Der Fall Wikileaks ist ein Lehrstück über die Ambivalenzen der Demokratie. Je ernster die Regierten es mit dieser Regierungsform meinen, je nachhaltiger sie ihr Freiheitsversprechen auszuschöpfen versuchen, desto stärker schlägt der Apparat, der sie verwaltet, zurück. Bradley Manning, der damals 22-jährige US-Soldat, der dafür sorgen wollte, dass unterschlagenes Regierungs-Material das Licht der Öffentlichkeit erblickt, sitzt inzwischen in einem amerikanischen Militärgefängnis. Und ausgerechnet Barack Obama, der nach den Jahren der intransigenten Bush-Regierung mit dem Versprechen nach mehr Transparenz ins Amt gewählt worden war, vergattert jetzt alle Regierungsangestellten zu noch größerer Geheimhaltung. Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst der Informationsfreiheit!