„Die größte Katastrophe der letzten einhundert Jahre“. Gülsün Karamustafa war die Erschütterung deutlich anzumerken, als sie vor kurzem im Neuen Berliner Kunstverein (nbk) ein Künstlerinnengespräch mit einer Erklärung der Betroffenheit einleitete.
Übertrieben hatte Karamustafa nicht. Mehr als 17000 Menschen starben in dem verheerenden Erdbeben, das die Türkei 1999 verheerte. Die Zahl der Todesopfer, die das jüngste Erdbeben von Anfang Februar im kurdischen Südosten um die Städte Kahramanmaras, Hatay und im Norden Syriens forderte, liegt inzwischen bei fast 40.000.
Rund 14 der 83 Millionen Einwohner:innen der Türkei sind von dem Beben betroffen. Kein Wunder, dass eine Ausnahmekünstlerin wie die 1946 in Ankara geborene Frau, die heute in Berlin und Istanbul lebt, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte.
Es hat etwas Zwiespältiges, angesichts der Bilder der immensen Zerstörungen und Tausenden Toten danach zu fragen, ob und welche Kultureinrichtungen von dem Beben betroffen sind. Zumal der türkische Südosten generell nicht besonders reich an modernen Kunstinstitutionen ist.
Das Gros dieser Häuser konzentriert sich in den Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir. In den östlichen Provinzstädten gibt es, mit Ausnahme der kurdischen Metropole Diyarbakır, meist nur kleinere historische Museen. Andererseits ist das Vorfeld des Zweistromlandes, einer der Geburtsstätten der menschlichen Zivilisation, überreich an archäologischen Stätten.
Hier schlagen die Verluste heftig zu Buche: Auch wenn ihre Mauern noch stehen: Die Burg der 2000 Jahre alten Stadt Gaziantep hat sich in einen Schutthaufen verwandelt. In Diyarbakır hat es Teile der historischen Stadtmauer und der Hevsel-Gärten erwischt. Sie zählen zum Unesco-Weltkulturerbe.
Die Zitadelle des durch den Krieg ohnehin in Mitleidenschaft gezogenen Aleppo, ihre Moschee und die Stadtmauern, wurden beschädigt. Und als größter Schaden ist die fast vollständige Zerstörung des historischen Antiochia zu bilanzieren, das heute Antakya heißt. Die antike, heute rund 400.000-Einwohner zählende Stadt, 170 Kilometer südwestlich vom Epizentrum des Bebens in Gaziantep entfernt, ist nur noch eine Trümmerwüste, ihre Altstadt ist zu 80 Prozent zerstört.
Aus der zerstörten Synagoge von Antakya retteten Rabbis aus Istanbul die 500 Jahre alten Torah-Rollen. Mit dem Einsturz der Synagoge und dem Tod des Gemeindevorstehers endeten dort 2500 Jahre jüdischer Geschichte. Unversehrt blieben nach Regierungsangaben die Grabung der neolithischen Kultstätte von Göbekli Tepe nahe Sanliurfa und die Monumente des vorchristlichen Heiligtums auf dem Berg Nemrut über Adiyaman, die ebenfalls zum Weltkulturerbe zählen.
Unter die immateriellen Zerstörungen muss man die zeitweise Blockade von Twitter rechnen, die der türkische Präsident Erdoğan nach dem Unglück erließ, angeblich, um „Desinformation“ zu verhindern. Nach Erdoğans Rede am 10. Februar, späte sechs Tage nach dem Desaster, wurden mehrere Bürger wegen Kritik an ihm verhaftet.
Oğuzhan Uğur, der Kopf von Babbala, einer der größten und aktivsten türkischen NGO’s wurde zum Verhör bestellt, während er gerade Rettungsarbeiten vorbereiten half. Wie sehr die Regierung die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation in Folge des Erdbebens fürchtet, zeigte das Beispiel von Ahbap.
Schnell geriet die private Hilfsorganisation des türkischen Sängers Haluk Levent, die in wenigen Tagen 50 Millionen Euros gesammelt hatte, in das Visier des besonders martialischen Innenministers Süleyman Soylu und des Führers der ultranationalistischen MH-Partei Devlet Bahçeli, dem wichtigsten Koalitionspartner von Erdoğans AK-Partei. Die Konkurrenz zur staatlichen Katastrophenschutzbehörde AFAD unter ihrem Chef Yunus Sezer, einem loyalen Karrierebeamten ohne spezifische Erfahrung, geißelten sie als Landesverrat.
Bislang ist nichts bekannt über markante Zerstörungen der Infrastruktur zeitgenössischer oder moderner Kunst, ebenso wenig wie über den Tod von Künstler:innen. Aus Pietätsgründen verzichtet der Kultursektor auf spektakuläre Solidaritätsveranstaltungen. Wenn, dann gibt es Aktionen stillen Gedenkens.
So stellte das Ankaraer Museum der anatolischen Zivilisationen die Bilder der rund 40 jungen, unter einem zusammengestürzten Hotel begrabenen Student:innen in der Provinzhauptstadt Adıyaman in sein Lapidarium. Der Digitalkünstler Uğur Gallenkuş schuf einiger seiner typischen Collage-Arbeiten, mit denen die WHO die internationale Spendenbereitschaft ankurbeln will (instagram: ugurgallen).
Die britische Kreativplattform Open Space Contemporary lancierte eine Online-Auktion von Kunstwerken, die nach Angaben ihres Gründers Huma Kabakci bislang rund 3000 Pfund einbrachte. Eine Ethereum-Blockchain Spendenkampagne des türkisch-amerikanischen Artifical-Intelligence-Künstlers Refik Anadol (der gerade im MoMA und bei Jeffrey Deitch in Los Angeles gastiert) spülte 6000 Dollar in die Kassen von Ahbap.
Ansonsten hagelt es Spendenaufrufe von Kulturorganisationen zugunsten vertrauenswürdiger Hilfsinstitutionen jenseits der staatlichen. Die Liste der Aufrufer reicht vom großen Kunstmuseum Arter der Industriellenfamilie Koç über Istanbuler Artspaces wie Protocinema, der türkischen Kunst-Förderorganisation Saha bis zu der kleinen Kunstinitiative Collective Çukurcuma.
Drei Beispiele von vielen kleinen Aktionen: Das Istanbuler Kulturzentrum Postane sammelte spontan 52.000 Lira (2600 Euro) und will 20 Prozent der künftigen Monatseinkünfte für die Kooperativen aus dem Erdbebengebiet reservieren, mit denen es zusammenarbeitet. Die Kunstmesse Contemporary Istanbul des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli spendete spontan überlebensnotwendig Praktisches: Lampen, Öfen und Batterien. Die diesjährige Art Dubai will 50 Prozent ihrer diesjährigen Ticketeinnahmen für das Krisengebiet spenden.
Ob und wie das Erdbeben in der Folge die politische Landschaft der Türkei ähnlich umwühlt wie jetzt das Erdbebengebiet, ist noch nicht auszumachen. Die Sorge um die unmittelbare Existenzsicherung könnte viele Menschen davon abhalten, sich überhaupt um Politik zu kümmern und so Erdoğans Wiederwahl im Mai oder Juni erleichtern. Andererseits ist die Wut über den in den Notgebieten tagelang komplett abwesenden Staat so groß, dass die Wahl, so sie der starke Mann in dem unzerstörten 1000-Zimmer-Palast in Ankara nicht verschiebt, zum Ventil eines geharnischten Protestes werden könnte.
Die Staatsinstitutionen gießen selbst Öl in das Feuer der auflodernden Empörung. Während eines Besuchs der Stadt Pazarcik schob der Staatspräsident die Schuld für das schwere Beben auf das „Schicksal“. Und die türkische Religionsbehörde Diyanet entblödete sich nicht, als „Soforthilfe“ Tausende Koranausgaben in die Notgebiete zu liefern, ein Zelt, in dem Kleinkinder Koranunterricht erhalten können und Waisenkinder, die ihre Eltern bei dem Erdbeben verloren haben, zur Hochzeit freizugeben.