„Es schmerzt, zu erkennen, dass ein Staat keinen Wert auf die Freiheit der eigenen Bürger legt.“ Kein Funken Verzweiflung lag in dem Satz, den Osman Kavala seinen Freunden Mitte Oktober aus dem Gefängnis schrieb. Stattdessen gab er sich so, wie man ihn kennt: mit klarer politischer Haltung, ohne übertriebenes Aufheben von seiner Person zu machen. Grund dazu hätte er: Seit über einem Jahr sitzt der Istanbuler Ex-Unternehmer nun in denselbem Gefängnis in Einzelhaft, in dem schon Deniz Yücel und Peter Steudtner einsaßen.
Am 18. Oktober letzten Jahres war Kavala nach der Rückkehr aus Gaziantep an der syrischen Grenze verhaftet worden, wo er zusammen mit dem Goethe-Institut ein Projekt für Flüchtlinge vorbereitet hatte. Der Vorwurf lautete, wie üblich, „Terrorpropaganda“ und „Versuch, die verfassungsmäßige Ordnung umzustürzen“.
In Wahrheit war dem Staat des Recep Tayyip Erdoğan Kavalas unermüdliches Engagement für die Menschenrechte, gegen Zensur, für die Minderheiten in der Türkei und die Freiheit der Kunst ein Dorn im Auge. Ungezählte Projekte realisierte er mit seiner 2002 gegründeten Stiftung „Anadolu Kültür“, deren Vorsitzender er ist.
„Osman Kavala wird in Haft gehalten, weil sein Engagement im Bereich der Zivilgesellschaft der Regierung missfällt“, ist seine Stellvertreterin Asena Günal überzeugt. Bislang Leiterin des Kunst- und Menschenrechtszentrums „Depo“ unweit des Galata-Turms, führt sie jetzt die Geschäfte, organisiert die Hilfe für ihren Chef.
Bis heute wartet der 61-jährige Philantrop auf seine Anklageschrift. „Es ist seltsam, das Antlitz der Justiz für ganze neun Monate nicht zu sehen“, schrieb er in einem Brief im August. Zuletzt war Bewegung in den Fall gekommen, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im September beschloss, seine Beschwerde wegen unrechtmäßiger Inhaftierung in einem „beschleunigten Verfahren“ zu behandeln.
Untersuchungshaft darf nach der Europäischen Menschenrechtskonvention eine bestimmte Frist nicht überschreiten. Das türkische Verfassungsgericht muss dem EGMR bis zum nächsten Januar eine Erklärung zur Verhaftung vorlegen.
So sehr sich der türkische Präsident dieser Tage im Fall Khashoggi als Aufklärer inszeniert, so sehr ist der Fall Kavala der lebende Beweis für das System aus Willkür und Unrecht, in das er sein Land beharrlich verwandelt hat. Der Fall Kavala ist aber auch einer der türkischen Bourgeoisie und ihrer moralischen Ambivalenz.
Bislang hat sich keiner der vermögenden Familien-Clans der gleichfalls kulturverliebten Koçs, Sabancıs, Eczacıbaşıs oder Çetindoğans – zwei von ihnen wollen im kommenden Jahr zwei weitere private Kunstmuseen am Bosporus eröffnen – mit einem deutlich vernehmbaren Wort des Protestes gegen die Verhaftung ihres Unternehmer-Kollegen Kavala vernehmen lassen.
Die Verhaftung Kavalas war ein Signal
Nur die Kultur- und Menschenrechtsszene hält die Solidaritätskampagne am Laufen. Regelmäßig versammeln sich seine Anhänger zu Solidaritäts-Meetings vor dem Gefängnis, pflegen eine Website, versammeln sich in aller Welt zu Gruppenfotos mit dem Motto „Free Osman Kavala“, mit denen sie dann die sozialen Medien fluten, zählen öffentlich die Tage seiner Internierung, um bloß nicht die Erinnerung an den stillen Mann mit dem graumelierten Bart schwinden zu lassen.
Eine Gruppe internationaler Wissenschaftler hat in einem offenen Brief an Staatspräsident Erdoğan seine Freilassung gefordert, unter ihnen die Politologin Seyla Benhabib und der Historiker Timothy Garton Ash. Seit dem Ende des Ausnahmezustands in der Türkei im Juli dürfen ihn immerhin seine Anwälte, seine Ehefrau Ayşe Buğra, eine Ökonomie-Professorin an der Istanbuler Boğaziçi-Universität und einzelne Bekannte häufiger sehen.
Die Verhaftung Kavalas war ein klares Signal an die liberale Bourgeoisie im Lande, die jetzt so schön stillhält, es nicht zu weit zu treiben mit ihrer Unterstützung der widerständigen Kultur. Mit ihrem Schweigen geben die Mäzene aber die falsche Antwort. Denn wenn sie, was nicht unwahrscheinlich ist, eines Tages selbst an der Reihe sind, werden wahrscheinlich nicht mehr viele da sein, die dann für sie eintreten können.