Habe vor ein paar Tagen die Lektüre von Fritz J. Raddatz’s Tagebüchern der Jahre 1982-2001 beendet. Der legendäre Feuilletonist der „Zeit“, ist schon ein echter Ästhet. Der Mann, der 1980 wegen eines peinlichen Goethe-Zitats über den Frankfurter Hauptbahnhof seinen Posten als Feuilletonchef der „Zeit“ räumen musste, versucht seine Existenz als Gesamtkunstwerk zu inszenieren. Der Edel-Prekarier, der immer über das mangelnde Geld klagt, frühstückt morgens im Wintergarten seiner Hamburger Wohnung von einer Tischdecke aus weißer Seide unter einem Orchideenbaum zu Mozartmusik. Auf dem Weg zu seiner Ferienwohnung auf Sylt hört er im Porsche Rachmaninoff. Und verzweifelt an alten Schulkameraden, die nicht wissen, was Avocados sind, nicht mit dem Fischbesteck essen können, noch nie eine Auster gesehen haben und den Namen Botero nicht kennen. „Häßliche Menschen mit Hängetitten“ weiterlesen
Flotter Dreier
“Der schönste Film des Jahres.”. „Erfrischend“. Hinreißend“. Wer in diesen Tagen Tom Tykwers Film “Drei” anschaut, wird die Charakterisierungen, die zum Jahresende so oder anders viele Feuilletons durchzog, nicht ganz falsch finden. Die Zuschauer verlassen das Kino sichtlich beschwingt. Die gezielten Schnitte, die Anlage als Laborversuch und natürlich die glanzvolle Sophie Rois in der Rolle der Kulturjournalistin Hanna heben den Film von dem betulichen Durchschnitt ab, der uns seit Jahren als “neuer deutscher Film” untergejubelt wird: sei es nun die wortkarge “Berliner Schule” oder Florian von Donnersmarcks großspurige Geschichtsfälschungen. Tykwers schon vor gut zehn Jahren in “Lola rennt” erprobte Mischung aus avancierter Ästhetik und populärem Plot verbinden sich mit dem scheinbar emanzipativen Gehalt, so der erste Eindruck, zu einem rundum positiven Kinoerlebnis. Selbst Pärchen, die das Lichtspieltheater Hand in Hand betreten, wirken danach wie gelöst. Ist das nicht wunderbar? „Flotter Dreier“ weiterlesen
Die Wahrheit ist der Demokratie zumutbar
Wikileaks und die Folgen
Hillary Clinton im Smalltalk mit Ban Ki-moon, George W. Bush herzt Angela Merkel, ein lächelnder Barack Obama trifft Hamid Karzai. Im Fernsehen und vor Kameras zeigt Politik gern ihre Schokoladenseite: Lächelnde Staatsmänner, die sich gegenseitig ihrer Wertschätzung versichern und von „my good old friend“ faseln, wenn sie insgeheim im Grunde glauben, dass ihnen gerade ein unfähiger Widerling gegenübersteht, mit dem endlich mal Tacheles geredet werden müsste. Was die Staatsschauspieler besprochen haben, geht die Regierten dann aber nichts an. In der Regel wird die Öffentlichkeit im Anschluss an solche Begegnungen mit nichtssagenden Statements oder den üblichen Floskeln abgespeist. Besonders beliebt ist der Satz, man habe „beiderseits interessierende Fragen erörtert“. Und: „Das Gespräch verlief herzlich“. „Die Wahrheit ist der Demokratie zumutbar“ weiterlesen
Der demokratische Faktor
Der Milliardär Nicolas Berggruen will erst Kalifornien und dann Amerika retten, hat aber das Wichtigste vergessen
Nicolas Berggruen ist uns äußerst sympathisch. Nicht nur, weil der smarte Sohn des Emigranten, Kunstsammlers und Mäzens Heinz Berggruen das gute alte Kaufhaus Karstadt oder das Café Moskau in Berlin gerettet hat, weil er in der Hauptstadt Gründerzeithäuser aufkauft, denkmalgetreu saniert und darauf achtet, dass sie kulturell genutzt werden; auf diese Weise hat er dem Kreuzberger Künstlerhaus Bethanien zu einer preiswerten neuen Bleibe verholfen. Sondern er ist uns generell sympathisch, weil er so kulturaffin ist, ja seinen Beruf kulturell definiert. Die Politik der Kultur und die Kultur der Politik – das scheint ausgerechnet bei diesem „Unternehmer“ in guten Händen. Endlich mal einer, der die Ökonomie unter den Primat der Kultur stellen wollte, und nicht umgekehrt. „Der demokratische Faktor“ weiterlesen
Bürger in Bewegung
L´etat c´est moi. Unter Ludwig XIV. war die Sache noch klar. Der Staat, das war, auch ästhetisch, der Herrscher. Der Potentat verkörperte die Nation. Und stand folglich ganz oben auf den Denkmälern zu ihrem Ruhm, In der Demokratie ist es komplizierter. Die Sozialbeziehungen werden immer abstrakter, Macht und Herrschaft funktionieren fast anonym, Herrschaft wird auf Zeit vergeben: All lässt sich nicht mehr in einer einzigen Figur zusammenfassen. Ein Nationaldenkmal ist in der Moderne also ein Widerspruch in sich. Zumal in Deutschland. Der Bau eines germanischen Mythenspargels wie dem Niederwalddenkmal am Rhein, mit dem das Deutsche Reich 1871 der Einigung Deutschlands feierte, wäre heute ganz und gar unmöglich. Bei Rüdesheim hält die Germania in der Rechten die Krone und in der Linken das Schwert. Man stelle sich vor: Ein Reiterstandbild Helmut Kohls in Berlin, der Kanzler der Einheit reitet hoch zu Roß durch die deutsche Nacht, angetan mit dem Mantel der Geschichte. „Bürger in Bewegung“ weiterlesen
Armut und Anmut
Heute morgen kam mir in Kreuzberg ein Mann entgegen, den man früher vielleicht Bettler gennate hätte. Heute heißt er Nichtseßhafter. Ein älterer Mann, ziemlich zerlumpt, unrasiert, lange, strähnige, fettige Haare, bekleidet mit Klamotten von undefinierbarer Farbe und einer braunen Papiertüte in der Hand. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und hatte es eilig. Er wollte die Kreuzung an einer unübersichtlichen Ampel überqueren, ich genau an dieser Stelle in den Kreisel einbiegen, der als Kottbusser Tor quasi zur Metapher von Armut, Schande und Verbrechen geworden ist. Es ging alles rasend schnell. Unaufhaltsam bewegten wir uns aufeinander zu. Bis er einsah, dass er vermutlich den Kürzeren ziehen würde. Und mit einem galanten Manöver den Rückzug antrat. Er tat das nämlich beileibe nicht etwa einfach so, ohne viel Aufhebens. Sondern mit dem artistisch angehauchten Exhibitionismus, der Outcasts so häufig eigen ist: Er stoppte demonstrativ, tänzelte ein bisschen auf der Stelle, zog den imaginären Hut, machte einen ziemlich imaginären Knicks und trat die entscheidenden drei Schritte zurück: Ich konnte weiterfahren. Poverty is no disgrace hat der amerikanische Maler David Salle 1982 einmal ein dreiteiliges Öl-Bild aus dem Jahr 1982 genannt, auf dem eine amorphe Menschenmasse, ein Knäuel Armer, zu sehen ist. Als ich mir die Fernsehbilder von der Schlacht um den Stuttgarter Bahnhof an- und dem im Fett der Macht ruhenden Steffan Mappus dabei zusehe, wie er vor den Kameras beteuert, beim Stuttgarter Bahnhof keinen Rückzieher machen zu wollen, denke ich mir: sie hat auch manchmal die größere Anmut.
Die Auswertung der Vergangenheit
Mit der „Quadriennale“ will die Landeshauptstadt Düsseldorf der Kunsthauptstadt Berlin Konkurrenz machen. Doch dafür ist die Schau zu nostalgisch geraten
Der Mann mit dem Hut. Man erkennt ihn sofort. Stechender Blick. Er sagt kein Wort. Nur ab und zu bewegen sich die Lippen beim Atmen. Eine Minute und siebenundvierzig Sekunden fixiert er stumm einen anonymen Betrachter. Man könnte auch sagen: Die „Soziale Plastik“ – so der Titel der Arbeit von 1969 – schweigt.
Man darf die Video-Arbeit, die den Besucher im Erdgeschoss der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen empfängt, durchaus paradigmatisch nehmen. Denn der Mann, der in diesem Jahr im Zentrum der großen Leistungsschau der Kunst steht, die Düsseldorf alle vier Jahre unter dem Namen Quadriennale veranstaltet, wirkt in der zentralen Ausstellung „Parallelprozesse“ wie kaltgestellt, auf lautlos gedreht. „Die Auswertung der Vergangenheit“ weiterlesen
Die Zukunft der Wohlfahrt
Das Berliner Künstlerduo Elmgreen&Dragset bereitet seine „Celebrity“-Schau in Karlsruhe vor
Death of a collector – Tod eines Sammlers. So hieß der mit Sicherheit spektakulärste Beitrag auf der letzten Venedig-Biennale im Sommer 2009. Das dänisch-norwegische Künstlerduo Elmgreen&Dragset hatte dort eine einzigartige Installation in Szene gesetzt. Den dänischen und den nordischen Pavillon hatten die beiden zur Residenz eines betuchten Industriellen umgebaut, der sein ganzes Geld in Kunst angelegt hatte und nach dem Börsenkrach pleite gegangen war. Das Anwesen wurde von einer fiktiven Immobilienfirma namens Vigilante Real Estate zum Kauf angeboten. Die Leiche des Sammlers schwamm in dem Pool vor dem Pavillon. Eine ebenso böse wie gelungene Satire auf den Kunstmarkt und –betrieb. „Die Zukunft der Wohlfahrt“ weiterlesen
Schönheitsoperation am Bosporus?
Erdogan will der Türkei ein neues Gesicht geben. So oder ähnlich lauteten in diesen Tagen die Schlagzeilen, mit denen die Medien die Ergebnisse des Verfassungsreferendums vom vergangenen Wochenende in der Türkei kommentierten. Das klingt, als ob am Bosporus eine Schönheitsoperation bevorstünde. Doch die Verfassungsänderungen, die sich die AKP von Premierminister Recep Tayyip Erdogan gerade vom türkischen Volk hat absegnen lassen, sind weit mehr als bloß eine kosmetische Retusche am lädierten Antlitz des Zwei-Hemisphären-Landes. „Schönheitsoperation am Bosporus?“ weiterlesen
Schönheit ist machbar
»Innen Stadt Außen«: Olafur Eliasson im Berliner Martin Gropius-Bau
Weather Project. Wenn Besucher von der legendären Ausstellung in der Londoner Tate Gallery berichten, kommen ihre Augen noch immer ins Leuchten. Vor knapp sieben Jahren hatte der isländisch-dänische Künstler Olafur Eliasson eine riesige Sonne in eine alte Turbinenhalle des britischen Kunsttempels hängen lassen. Über den Boden waberte Nebel. Tagelang lagen die Besucher verzückt im Bann des glühenden Gestirns. Über zwei Millionen Menschen sahen zur Jahreswende 2003/2004 das Spektakel: die größte Einzelausstellung eines lebenden Künstlers, die es jemals gab. „Schönheit ist machbar“ weiterlesen