Bleibt Türkiye, so heißt die Türkei seit neuem auf Geheiß ihres Dauerpotentaten, doch modern? Schwer zu sagen, ob Recep Tayyip Erdoğan diese Message senden wollte, als er 19. Mai im Kunstmuseum Istanbul Modern aus den Händen von Oya Eczacıbaşı ein großes Bild des Hauses entgegennahm.
Seit Monaten hatte die türkische Kunstszene gerätselt, wann der Neubau des 2004 in einer Lagerhalle an der Uferpromenade des Stadtteils Karaköy am alten Hafen von Istanbul eröffneten Kunstmuseums endlich öffnen würde. Der langgestreckte Bau, den der Industriellenclan Eczacıbaşı bei dem Architekten Renzo Piano in Auftrag gegeben hatte und an ein Schiff erinnert, war seit Monaten fertig, Nachfragen, wann es denn nun endlich losgeht, wurden aber ausweichend beantwortet.
Offenbar scheute die Unternehmerfamilie, die auch die Istanbul Kültür Sanat Vakfi (IKSV-Stiftung) betreibt, die die 1987 gegründete Istanbul Biennale ausrichtet, die Zeit vor den Wahlen. Schließlich öffnete das Haus am 4. Mai still und leise seine Pforten für das normale Publikum.
Doch so wie schon der Architekt Erol Tabanca sein privates Kunstmuseum Odunpazarı in Eskişehir 2019 nur in Erdoğans Anwesenheit eröffnen durfte, kamen auch die Eczacıbaşıs in Istanbul nicht um den allgegenwärtigen Staatschef herum.
Offizieller Anlass für den Auftritt auf dem Terrain der säkularen Kultur, die Erdoğan sonst gern mit Hassreden überzieht, war der „Tag der Jugend und des Sports“. Dafür hätte es auch das nahe Sportstadion getan. Doch Taktiker Erdoğan wollte die Kulisse des kulturellen Leuchtturms für die zweite Wahlrunde am 24. Mai instrumentalisieren.
Eine Kampfansage an die Moderne wurde die Präsidentenrede zwar nicht. Vor der Wahl wollte er offenbar keine schlafenden Hunde wecken. Ein etwas müde wirkender Erdoğan lobte seine Erfolge bei der Rettung der osmanischen Kulturgüter und wünschte dem Museum viel Glück.
Doch die gequälten Gesichter von Bülent Eczacıbaşı und seiner Frau Oya, der Direktorin des Museums, bei Erdoğans 20minütiger Ansprache wirkten wie ein Sinnbild für die Lage der Kunst in der Türkei am Vorabend seines mutmaßlichen Siegs: Gute Miene zum autoritären Spiel machen.
„Ich weine wie verrückt“. Der Tweet, den die Pop-Diva Sezen Aksu am Tag nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahl in der Türkei absetzte, brachte die Lage auf den Punkt: Abgrundtiefe Verzweiflung unter den Kulturschaffenden. Monatelange Mobilisierung und Dauerpräsenz in den Sozialen Medien hatten nichts genutzt.
Die unverbrüchliche Treue der ländlich-konservativen Klientel zu ihrem Idol Erdoğan kann sich die Kuratorin Övül Ö. Durmusoglu, eine der intelligentesten zeitgenössischen Kurator:innen mit türkischem Hintergrund, nur noch mit dem Stockholm-Syndrom erklären: Der schizophrenen Liebe der Gepeinigten zu ihren Peinigern.
Nach dem Sieg im Zweiten Wahlgang schälen sich zwei Fraktionen in der türkischen Kultur- und Intellektuellenszene heraus: Die Zweckoptimisten wie Güneş Duru. „Wir wussten, dass es nicht leicht werden würde“ beschwichtigt der Musiker und Dozent an der Istanbuler Mimar Sinan-Kunstuniversität.
Die Essayistin Ece Temelkuran versucht, die Niederlage in ein Misstrauensvotum gegen Erdoğan umdeuten. Sie verweist auf die gute Hälfte des Landes, die ihm im ersten Wahlgang die Unterstützung verweigert hat. Durchhalten und weiterkämpfen ist ihre Devise. Auf Dauer werde Erdoğan nicht durchalten können.
„Egal, ob wir gewinnen oder verlieren“ sagt Asena Günal, Geschäftsführerin der Kulturorganisation Anadolu Kültür, „wir werden immer so weiterarbeiten, als stünden wir am Anfang des Weges“. Günals Chef, der seit über 4 Jahren inhaftierte Kunstmäzen Osman Kavala, dessen Freilassung Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CH-Partei versprochen hatte, kann seine Hoffnung darauf nun ebenso begraben wie Selahattin Demirtaş, der Ex-Chef der kurdischen HD-Partei, der im Gefängnis zum Schriftsteller wurde.
Nach dem Sieg Erdoğans müssen sich Künstler und Intellektuelle darauf gefasst machen, dass der gestärkte Präsident die Daumenschrauben bei allen anziehen wird, die sich in der Euphorie des Wahlkampfs kritisch geäußert hatten. Charakteristisch war die Reaktion des bekannten türkischen Komponisten FazılSay.
Hatte der im Wahlkampf Stimmung für die Opposition gemacht, gab er hernach konsterniert eine Entschuldigung zu Protokoll. Er wolle in Zukunft nur noch „die Musik sprechen lassen und ansonsten „schweigen“. Zwar hat die türkische Zivilgesellschaft im Allgemeinen und die Kunstszene im Besonderen in 20 Jahren Herrschaft Erdoğan eine staunenswerte Resilienz bewiesen.
Auf die werden sie sich auch in den nächsten fünf Jahren verlassen müssen.
Aber selbst eine hartgesottene Erdoğan-Gegnerin wie die 1942 geborene Kuratorin Beral Madra, die 1987 die 1. Istanbul-Biennale kuratiert hatte, bekennt nun: „Ich habe Angst“.
Zuletzt gab es mit Neugründungen in Bursa, Ankara und Izmir sogar einen kleinen Boom kritischer Artspaces. Dennoch dürfte sich der Exodus von Künstler:innen, Akademiker- und Ärzt:innen aus dem Land beschleunigen. Schon jetzt beherbergt Berlin die zweitgrößte türkische Kunstcommunity der Welt nach Istanbul. Seit ein paar Jahren wohnt bereits Gülsün Karamustafa, deren Grande Dame, in Berlin-Prenzlauer Berg.
Zwar rühmte sich Erdoğan kurz vor der Wahl damit, 164 Museen in der Türkei renoviert zu haben. Und am 19. Mai lud er sich zum „Tag der Jugend und des Sports“ selbst in das von Star Architekt Renzo Piano neu erbaute und Anfang Mai unauffällig eröffnete Kunstmuseum Istanbul Modern der Unternehmerfamilie Eczacıbaşı ein. C
lanchef Bülent Eczacıbaşı und seine Frau Oya, die Direktorin des Museums, säkulare Kunstfreunde bis ins Mark, saßen mit versteinertem Gesicht in der ersten Reihe. Eine Kulturrevolte gegen die Moderne, die er sonst gern mit Hassreden überzieht, war Erdoğans Ansprache zum „Tag der Jugend und des Sports“ nicht. Ausgeschlossen, dass sich unter dem neualten Dauerpotentaten eine liberale, öffentliche Kulturpolitik entwickeln könnte wie sie Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu derzeit durchsetzt.
Eher dürfte die Islamisierung des Landes weitergehen. Verstärkt durch den nationalistischen dip dalga (silent wave) der auch zwei islamistische Splitterparteien erstmals ins Parlament beförderte. Eine deutsch-kurdische Künstlerin war sich sicher: „Mit diesem Ergebnis ist die Türkei auf dem Weg zum zweiten Iran“.
„Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt“. Das hat nicht August Bebel gesagt, sondern sein Zeitgenosse Henrich Zille. Das Mietskasernenelend des proletarischen „Milljöhs“ am Ende des 19. Jahrhunderts, das der legendäre Künstler mit dem Spruch anprangerte, existiert zumindest im Berlin des 21. Jahrhunderts zwar so nicht mehr.
An Cholera, Typhus und den Blattern, wie es Friedrich Engels in seinen Schriften zur Wohnungsfrage beklagte, sterben Mieter:innen der deutschen Hauptstadt nicht mehr reihenweise. Wiewohl es natürlich auch heute noch so „infame Schweineställe“ (Engels) wie damals gibt.
Aber die „Wohnungsfrage“ unserer Tage ist zu einer ähnlichen sozialen Zeitbombe geworden wie das Wachsen des Proletariats am Ende des Kaiserreichs. Was sich nicht nur an den rasant steigenden Obdachlosenzahlen und den Zeltlagern des Lumpenproletariats unter Brücken und S-Bahn-Bögen, vor Supermärkten und in Sparkassen ablesen lässt.
Berlin hat seit den 2000er Jahren einen ebenso rabiaten wie konzertierten Angriff des internationalen Investmentkapitals auf einen, infolge von 40 Mauerjahren relativ günstigen Wohnungsmarkt erlebt. Die Axt, mit der die anonymen Pensionsfonds, Anlagefonds und Briefkastenfirmen, die die dieses lukrative Terrain planmäßig aufrollten, dessen Nutznießer bis heute erschlagen, heißen Mietsteigerung und Umwandlung in Eigentumswohnungen.
„Diese Stadt lässt Dich machen“ – in ihrem neuesten Werbefilm beutet eine Berliner Biermarke einmal mehr das mythische Charisma von der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten aus. Derweil flüchtet sich das unbotmäßige Kreativvölkchen auf das der Spot zielt, ins Umland, weil es die lustigen Orte, an denen er gedreht wurde, nicht mehr bezahlen kann oder von der öden Investarchitektur a la Mercedes-Benz-Arena am Spreeufer plattgemacht wird.
Es ist diese kaum verhüllte Gier des frei flottierenden, globalen Finanzkapitals, das zum Volksentscheid am 26. September 2014 geführt hat. Dabei hatten sich bekanntlich 59,1 Prozent der Abstimmenden dafür ausgesprochen, profitorientierte Wohnungsunternehmen wie die Deutsche Wohnen oder Vonovia, in Gemeineigentum zu überführen.
Es gehörte schon einige Chuzpe von SPD-Spitzenfrau Franziska Giffey dazu, ausgerechnet diese urbanen „Würgeengel“ (Friedrich Engels) zu Partnern für ein „Bündnis für Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen“ auszurufen. Die ideologische Augenwischerei bestand darin, eine sozialpartnerschaftliche Symmetrie zu suggerieren, die nicht existiert. Der Fall des Milliardärs Nicolas Berggruen steht dabei pars pro toto. Kaum hatte er sich in der Stadt mit ein paar Vorzeigeprojekten das Image des Kulturfreunds zugelegt, warf er seine Mieter:innen reihenweise aus ihren Wohnungen und Ateliers.
Es steht paradigmatisch für die Lage der linken Volkspartei, dass sie die „Expropriation der Expropriateure“ wie der Teufel das Weihwasser scheut, die die Theoretiker der Arbeiterbewegung von Karl Marx über August Bebel bis Otto Bauer propagierten. Selbst Kevin Kühnert wollte ja mal BMW kollektivieren. Stattdessen bemüht Giffey das Gewissen, das schwieg, als sie bei ihrer Doktorarbeit schummelte, um diese Initiative zu verhindern.
Lassen wir das Moralargument einmal beiseite, hinter dem sich eine ähnliche Entideologisierung von Politik verbirgt wie hinter der stereotyp wiederholten Formel „Das Beste für Berlin“ – als ob es nicht um die soziale Gestaltung der Stadt gegen deren Gegner ginge.
Lassen wir auch die Ablehnung eines demokratischen Mehrheitsvotums für eine in der Verfassung vorgesehene Maßnahme beiseite. Den Profiteuren des größten anzunehmenden Wohnungsproblems seit dem 2. Weltkrieg will Giffey nun gar noch Steuererleichterungen gewähren, um den Wohnungsbau anzukurbeln.
So hartnäckig, wie sich Giffey gegen ein ursozialdemokratisches Politikprojekt verwahrt, fragt man sich langsam: Von wem wird diese Frau bezahlt? Von der SPD? Den Steuerzahler:innen? Oder der Immobilienwirtschaft? Primus – dem „Immobilienentwickler im Luxussegment“, der die SPD mit einer Spende von verdächtigen 9.999 Euro bedachte, dankte sie mit den Worten: „Sie können mich bei Fragen oder Anregungen gerne direkt ansprechen“.
Auch nach der Wahl bleibt die Rhetorik auffällig: Kein Tag vergeht ohne neue Beispiele von Verdrängung und Entmietung – einer anderen Form von Enteignung. Doch der jetzt vorgestellte Koalitionsvertrag mit der CDU sorgt sich um die „schwierige und krisenhafte Rahmenbedingungen in der Bauwirtschaft“ – kein Wort über die existenzielle Gefährdung Tausender Mieter:innen.
Im schwarz-roten Koalitionsvertrag fehlen klare Regelungen zu ihrem effektiven Schutz, neue Ideen zum Mietendeckel oder dem vom Bundesverwaltungsgericht kassierten Vorkaufsrecht. Dem zwielichtigen Karstadt-Investor René Benko soll dagegen der Weg bereitet werden. Giffey als Bausenatorin zu nominieren, hat da eine gewisse Logik. Die Projektentwickler für die geplante Randbebauung des Tempelhofer Feldes werden sich die Hände reiben.
Der zügigen Umsetzung des Enteignungsbeschluss des Volksentscheides versuchen die Koalitionäre mit dem Ankauf von Wohnungen das Wasser abzugraben. Was teurer würde als die Überführung von Gemeineigentum. Sollte die eingesetzte Expert:innenkommission doch grünes Licht dafür geben, soll das „Vergesellschaftsungsrahmengesetz“ aber erst zwei Jahre nach Verabschiedung in Kraft treten.
Die SPD-Spitze säuselt von einer „Koalition für alle“. So massiv wie die Spitze der Sozialdemokratie für die Besserstellung der Expropriateure Front macht, fühlt man sich eher an Friedrich Engels“ Diktum von 1872 erinnert: „Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten …nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht“.
Man kommt sich vor wie ein Steinzeit-Marxist. Aber bei der Politik, der die SPD in der „Wohnungsfrage“ den Weg bereitet, fällt einem leider kein anderes Wort ein als das verstaubte Totschlag-Argument altlinker Dogmatiker: „Klassenverrat“.
„Soldaten sind Mörder“. Wer heute wiederholt, was Kurt Tucholsky 1931 in der „Weltbühne“ schrieb, muss noch immer mit einem Aufschrei der Empörung rechnen. Schließlich gilt Landesverteidigung immer noch als Ehrendienst.
Matthias Enards Roman „Der perfekte Schuss“ kommt wie der Versuch daher, Tucholskys Spruch zu belegen. Denn der Soldat, der in seinem Mittelpunkt steht, versucht gar nicht, sein todbringendes Handwerk mit einer höheren Moral zu legitimieren.
Das Werk spielt in einem unbestimmten Kriegsgeschehen zu unbestimmter Zeit. Es gibt keine gute oder böse Seite in dem Konflikt. Der Ich-Erzähler arbeitet als Scharfschütze an vorderster Front und sichert den Vormarsch der Truppen seines Landes ab.
An vorderster Front
Kaltblütig nimmt er, meist von einem vorgeschobenen, aber sicheren Beobachtungsposten gegnerische Soldaten ins Visier. Manchmal knallt er auch einfach ohne Grund Lebewesen ab.
Den ersten feindlichen Soldaten erschießt er „aus einer Art Neugier“. Mal trifft es dann eine Katze, mal einen Falken im Beuteflug, mal eine junge Frau im Morgengrauen, ohne dass ersichtlich wird, warum.
Im Gegensatz zu den manchmal barock ausufernden Vorgängerwerken Enards ist sein 2003 erstmals in Frankreich veröffentlichter Roman ein Muster an Sprachökonomie: Kalt, effizient, zielsicher.
Dieses Werk ist selbst wie ein tödlich sitzender Schuss. Es gibt keinen überflüssigen Satz, kein entbehrliches Wort in ihm.
Der ledige Ich-Erzähler agiert zwar wie ein kaltblütiger Killer. Doch es sind die Umstände, die ihn nach dem Tod seines Vaters jung zum Soldaten gemacht haben.
Im Grunde seines Herzens sehnt er sich nach „Behaglichkeit und Ruhe wie in einer echten Familie“, wenn er nach einem Einsatz in die Wohnung zurückkommt, wo er mit seiner, irre gewordenen Mutter lebt. Kein Wunder, dass er „Ruhe und Professionalität“ als „die sichersten Verbündeten“ des Tötens betrachtet.
Trotz der teils unvorstellbaren Grausamkeiten und des unaufhörlichen Tötens ist Enards Buch kein Pamphlet gegen den Krieg. Es diskreditiert an keiner Stelle den Beruf des Soldaten aus einer moralischen Perspektive.
Dafür ist sein Protagonist zu sehr von seinem Tun überzeugt. Selbst wenn er einmal Gewissensbisse hat, weil er einen Kameraden erschießen muss, stellt er das ständige Töten nie in Frage.
Wie eine sanfte Droge
Was dieses Buch zu einem einzigartigen, atemberaubenden, von Sabine Müller kongenial übersetztem Meisterwerk macht, ist, wie der Ich-Erzähler einen verhängnisvollen Selbstlauf nachvollziehbar macht.
Mag sein Töten anfangs noch einen legitimen Grund gehabt haben. Irgendwann führt das Handwerk des Grauens dann doch an den Punkt, der dem namenlosen Soldaten eines Tages durch den Kopf geht, als er sich eine Art Philosophie seiner Obsession zurechtlegt.
„Das Schießen“ resümiert er, „ist wie eine sanfte Droge, man will immer mehr davon, immer schönere Treffer, immer schwierigere“. Gleich zu Beginn des Romans dekretiert er, das Gewehr müsse „Teil deines eigenen Körpers werden“.
Es ist diese Konditionierung, die es ihm unmöglich macht, normale menschliche Beziehungen einzugehen.
Deswegen scheitert auch sein Werben um Myrna, dem 15 Jahre jungen Mädchen, das er engagiert, um seine Mutter während seiner Einsätze zu betreuen und in das er sich verliebt.
Ein Soldat, so ließe sich Enards aufwühlende Parabel lesen, kann auch zum Mörder werden, ohne selbst zu töten.
Matthias Enard: Der perfekte Schuss. Roman. Aus dem Französischen von Sabine Müller. Hanser Berlin, 192 Seiten, 24 Euro
„Natur“. „Gerechtigkeit“. „Gleichheit“. Die Besucher des alten Gaswerks Müze Gazhane im Istanbuler Stadtteil Kadiköy staunten vergangenen September nicht schlecht, als sie die schwungvolle Performance „Flag’s Project“ bestaunten. Bei der Arbeit der indonesischen Künstlerin Arahmaiani für die 17. Istanbuler Kunstbiennale schwangen die Tänzer auf einer riesigen Bühne Fahnen mit Codewörtern des zivilen Ungehorsams, die schon im Gezi-Aufstand 2013 eine Rolle gespielt hatten.
Der letzte Kunstherbst am Bosporus war eine kleine Überraschung. Mit jedem Dekret ihres autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rückt die Türkei näher in Richtung Diktatur. Doch wie um klarzumachen, dass die unabhängige Kunst nicht aufgibt, zeigte sie demonstrativ Präsenz. Dass die Biennale widerständige türkische Kunst- und Ökologieinitiativen mit internationalen Pendants in einem Dutzend Istanbuler Artspaces vernetzte, war dabei ebenso ein Zeichen wie die Präsentation der Funde aus dem bis dato nahezu unbekannten Frauenarchiv der Stadt Istanbul in einem von ihnen.
Von einer Revue der türkischen Performancekunst der 90er Jahre im Kunsthaus Salt bis zur feministischen Schau „Mis(s)placed Woman?“ in dem Kunstraum „Depo“ des seit viereinhalb Jahren inhaftierten Kunstmäzens Osman Kavala reichte die unübersehbare Anzahl von Ausstellungen rund um die Biennale. Selbst der 2017 aus dem Amt als Chef des avantgardistischen Kunstverbunds „Salt“ gedrängte Kurator Vasif Kortun kuratierte eine Schau der israelischen Künstlerin Nira Pereg zu Sicherheit und Kontrolle im öffentlichen Raum.
Das Yapı Kredi-Kulturzentrum im Herzen des Touristenviertels Beyoğlu zeigte unter dem Titel „Leben, Tod, Liebe und Gerechtigkeit“ eine Ausstellung, die das brutale Vorgehen des türkischen Militärs im kurdischen Südosten oder die verbotene Demonstration der „Samstag-Mütter“ aufgriff. Und für ein Land, dessen Regierung regelmäßig die LGBTQ+-Märsche niederknüppeln lässt, war es ein Wagnis, dass die kommerzielle Kunstmesse „Contemporary Istanbul“ des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli in ihrem Skulpturenpark die Plexiglas-Statue eines Kindes mit einer Regenbogenfahne aufstellte.
In diesem Jahr steht die Wiedereröffnung des privaten, vom Star-Architekten Renzo Piano neu errichteten Kunstmuseums Istanbul Modern der Unternehmerfamilie Eczacıbaşı an, die auch die IKSV-Stiftung finanziert, die die Biennale trägt. Anfang Oktober hatte der Staatspräsident selbst das neue Haus der Kunstsammlung der renommierten Istanbuler Mimar Sinan-Kunstuniversität eröffnet. Alles in Ordnung also mit der Kunst am Bosporus?
Das herbstliche Zwischenhoch ist kein Grund für Entwarnung. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im symbolträchtigen, 100. Jahr der Republikgründung 1923, verschärfen Erdoğan und seine AK-Partei ihren Zugriff auf das Land. Sie ziehen nicht nur die populistische Daumenschraube an, wie die vom Präsidenten höchstpersönlich vergangenen Sommer losgetretene Hatz auf die türkische Pop-Diva Sezen Aksu.
Die hatte sich in einem Lied über den Propheten Adam lustig gemacht. Reihenweise wurden auch Theateraufführungen, Konzerte und Festivals verboten. Vor kurzem verabschiedete das türkische Parlament zudem ein neues Mediengesetz. Wegen eines unbedachten Tweets kann man in der Türkei nun drei Jahre ins Gefängnis wandern. Und was nützen die 164 Museen, die Erdoğan in den letzten 20 Jahren eröffnet haben will, wenn sich dort immer weniger etwas trauen?
Es gehört freilich zu den Paradoxien der „Neuen Türkei“, die Erdoğan aufbauen wollte, dass der immer rigideren, politischen Dominanz keine kulturelle Hegemonie entspricht. „Politische Macht ist eine Sache. Sozial und kulturell zu regieren ist eine ganz andere Sache. Wir sind seit 14 Jahren an der Macht, aber wir haben immer noch Probleme im sozialen und kulturellen Bereich“ hatte der Staatchef schon 2017 vor der islamischen Erziehungsstiftung Ensar geseufzt.
Seine ein Jahr später lancierte Gegenoffensive in Gestalt der „Yeditepe-Biennale“ für die traditionellen Künste wie Kalligraphie, Miniaturmalerei oder Goldschmiedekunst, fand jedoch wenig Anklang. Was die Kunst angeht, hält sich die Intelligenz lieber an die Privatmuseen der großen, ökonomisch zwar opportunistischen, kulturell aber liberalen Industriellenfamilien wie Koç, Sabancı oder Borusan, private Galerien und Artspaces. Ihnen folgt neuerdings die Stadt Istanbul.
Das unter dem Namen „Müze Gazhane“ neu eröffnete alte Gaswerk im liberalen Kadiköy, Schauplatz von Arahmainis Flaggenparade, ist eines von sechs neuen, in der Türkei beispiellosen, öffentlichen Kunst- und Kulturzentren, mit denen Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CH-Partei neue Räume öffnen will. Der charismatische Kunstfreund hat ihr demokratisches Potenzial erkannt.
So gleicht die Lage der Kunst am Bosporus derzeit einem Kippmoment zwischen Repression und Selbstbehauptung. Gebannt warten alle auf den Ausgang der Wahlen im Juni. Gewinnt der trickreiche Präsident ein letztes Mal, dürften die letzten verbliebenen Künstler:innen und Intellektuelle ihre Koffer packen. Sollte die Opposition gewinnen, womöglich gar mit ihrem Traumkandidaten İmamoğlu, könnte sich das Kunstwunder wiederholen, das das Magazin „Newsweek“ 2005 mit seinem Titel „Cool Istanbul“ bejubelte.
„Die größte Katastrophe der letzten einhundert Jahre“. Gülsün Karamustafa war die Erschütterung deutlich anzumerken, als sie vor kurzem im Neuen Berliner Kunstverein (nbk) ein Künstlerinnengespräch mit einer Erklärung der Betroffenheit einleitete.
Übertrieben hatte Karamustafa nicht. Mehr als 17000 Menschen starben in dem verheerenden Erdbeben, das die Türkei 1999 verheerte. Die Zahl der Todesopfer, die das jüngste Erdbeben von Anfang Februar im kurdischen Südosten um die Städte Kahramanmaras, Hatay und im Norden Syriens forderte, liegt inzwischen bei fast 40.000.
Rund 14 der 83 Millionen Einwohner:innen der Türkei sind von dem Beben betroffen. Kein Wunder, dass eine Ausnahmekünstlerin wie die 1946 in Ankara geborene Frau, die heute in Berlin und Istanbul lebt, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen konnte.
Es hat etwas Zwiespältiges, angesichts der Bilder der immensen Zerstörungen und Tausenden Toten danach zu fragen, ob und welche Kultureinrichtungen von dem Beben betroffen sind. Zumal der türkische Südosten generell nicht besonders reich an modernen Kunstinstitutionen ist.
Das Gros dieser Häuser konzentriert sich in den Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir. In den östlichen Provinzstädten gibt es, mit Ausnahme der kurdischen Metropole Diyarbakır, meist nur kleinere historische Museen. Andererseits ist das Vorfeld des Zweistromlandes, einer der Geburtsstätten der menschlichen Zivilisation, überreich an archäologischen Stätten.
Hier schlagen die Verluste heftig zu Buche: Auch wenn ihre Mauern noch stehen: Die Burg der 2000 Jahre alten Stadt Gaziantep hat sich in einen Schutthaufen verwandelt. In Diyarbakır hat es Teile der historischen Stadtmauer und der Hevsel-Gärten erwischt. Sie zählen zum Unesco-Weltkulturerbe.
Die Zitadelle des durch den Krieg ohnehin in Mitleidenschaft gezogenen Aleppo, ihre Moschee und die Stadtmauern, wurden beschädigt. Und als größter Schaden ist die fast vollständige Zerstörung des historischen Antiochia zu bilanzieren, das heute Antakya heißt. Die antike, heute rund 400.000-Einwohner zählende Stadt, 170 Kilometer südwestlich vom Epizentrum des Bebens in Gaziantep entfernt, ist nur noch eine Trümmerwüste, ihre Altstadt ist zu 80 Prozent zerstört.
Aus der zerstörten Synagoge von Antakya retteten Rabbis aus Istanbul die 500 Jahre alten Torah-Rollen. Mit dem Einsturz der Synagoge und dem Tod des Gemeindevorstehers endeten dort 2500 Jahre jüdischer Geschichte. Unversehrt blieben nach Regierungsangaben die Grabung der neolithischen Kultstätte von Göbekli Tepe nahe Sanliurfa und die Monumente des vorchristlichen Heiligtums auf dem Berg Nemrut über Adiyaman, die ebenfalls zum Weltkulturerbe zählen.
Unter die immateriellen Zerstörungen muss man die zeitweise Blockade von Twitter rechnen, die der türkische Präsident Erdoğan nach dem Unglück erließ, angeblich, um „Desinformation“ zu verhindern. Nach Erdoğans Rede am 10. Februar, späte sechs Tage nach dem Desaster, wurden mehrere Bürger wegen Kritik an ihm verhaftet.
Oğuzhan Uğur, der Kopf von Babbala, einer der größten und aktivsten türkischen NGO’s wurde zum Verhör bestellt, während er gerade Rettungsarbeiten vorbereiten half.Wie sehr die Regierung die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation in Folge des Erdbebens fürchtet, zeigte das Beispiel von Ahbap.
Schnell geriet die private Hilfsorganisation des türkischen Sängers Haluk Levent, die in wenigen Tagen 50 Millionen Euros gesammelt hatte, in das Visier des besonders martialischen Innenministers Süleyman Soylu und des Führers der ultranationalistischen MH-Partei Devlet Bahçeli, dem wichtigsten Koalitionspartner von Erdoğans AK-Partei. Die Konkurrenz zur staatlichen Katastrophenschutzbehörde AFAD unter ihrem Chef Yunus Sezer, einem loyalen Karrierebeamten ohne spezifische Erfahrung, geißelten sie als Landesverrat.
Bislang ist nichts bekannt über markante Zerstörungen der Infrastruktur zeitgenössischer oder moderner Kunst, ebenso wenig wie über den Tod von Künstler:innen. Aus Pietätsgründen verzichtet der Kultursektor auf spektakuläre Solidaritätsveranstaltungen. Wenn, dann gibt es Aktionen stillen Gedenkens.
So stellte das Ankaraer Museum der anatolischen Zivilisationen die Bilder der rund 40 jungen, unter einem zusammengestürzten Hotel begrabenen Student:innen in der Provinzhauptstadt Adıyaman in sein Lapidarium. Der Digitalkünstler Uğur Gallenkuş schuf einiger seiner typischen Collage-Arbeiten, mit denen die WHO die internationale Spendenbereitschaft ankurbeln will (instagram: ugurgallen).
Die britische Kreativplattform Open Space Contemporary lancierte eine Online-Auktion von Kunstwerken, die nach Angaben ihres Gründers Huma Kabakci bislang rund 3000 Pfund einbrachte. Eine Ethereum-Blockchain Spendenkampagne des türkisch-amerikanischen Artifical-Intelligence-Künstlers Refik Anadol (der gerade im MoMA und bei Jeffrey Deitch in Los Angeles gastiert) spülte 6000 Dollar in die Kassen von Ahbap.
Ansonsten hagelt es Spendenaufrufe von Kulturorganisationen zugunsten vertrauenswürdiger Hilfsinstitutionen jenseits der staatlichen. Die Liste der Aufrufer reicht vom großen Kunstmuseum Arter der Industriellenfamilie Koç über Istanbuler Artspaces wie Protocinema, der türkischen Kunst-Förderorganisation Saha bis zu der kleinen Kunstinitiative Collective Çukurcuma.
Drei Beispiele von vielen kleinen Aktionen: Das Istanbuler Kulturzentrum Postane sammelte spontan 52.000 Lira (2600 Euro) und will 20 Prozent der künftigen Monatseinkünfte für die Kooperativen aus dem Erdbebengebiet reservieren, mit denen es zusammenarbeitet. Die Kunstmesse Contemporary Istanbul des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli spendete spontan überlebensnotwendig Praktisches: Lampen, Öfen und Batterien. Die diesjährige Art Dubai will 50 Prozent ihrer diesjährigen Ticketeinnahmen für das Krisengebiet spenden.
Ob und wie das Erdbeben in der Folge die politische Landschaft der Türkei ähnlich umwühlt wie jetzt das Erdbebengebiet, ist noch nicht auszumachen. Die Sorge um die unmittelbare Existenzsicherung könnte viele Menschen davon abhalten, sich überhaupt um Politik zu kümmern und so Erdoğans Wiederwahl im Mai oder Juni erleichtern. Andererseits ist die Wut über den in den Notgebieten tagelang komplett abwesenden Staat so groß, dass die Wahl, so sie der starke Mann in dem unzerstörten 1000-Zimmer-Palast in Ankara nicht verschiebt, zum Ventil eines geharnischten Protestes werden könnte.
Die Staatsinstitutionen gießen selbst Öl in das Feuer der auflodernden Empörung. Während eines Besuchs der Stadt Pazarcik schob der Staatspräsident die Schuld für das schwere Beben auf das „Schicksal“. Und die türkische Religionsbehörde Diyanet entblödete sich nicht, als „Soforthilfe“ Tausende Koranausgaben in die Notgebiete zu liefern, ein Zelt, in dem Kleinkinder Koranunterricht erhalten können und Waisenkinder, die ihre Eltern bei dem Erdbeben verloren haben, zur Hochzeit freizugeben.
„Himmelfahrtskommando“. So hat der Kunsthistoriker Walter Grasskamp einmal die Aufgabe der künstlerischen Leitung der documenta genannt. Der Ausgleich zwischen den politischen und ästhetischen Interessen dieses Unternehmens grenzt ohnehin an die Quadratur des Kreises. Nach der verunglückten documenta 15 wird diese Herkulesaufgabe noch unlösbarer.
Welche ambitionierte Kurator:innen werden sie in fünf Jahren noch übernehmen wollen? Jetzt, wo der Ruf nach mehr staatlicher Kontrolle und dem „verantwortlichen“, sprich starken Kurator wieder im Raum steht? Unübersehbar steht die Frage im Raum, wie in Zukunft Großausstellungen gemacht werden sollten.
Um es gleich vorwegzunehmen: Nur weil die documenta fifteen den politischen Anspruch der Kunst scheinbar überdehnt hat, sollten Großausstellungen und Biennalen nicht darauf verzichten, die großen Fragen aufwerfen. Und sich auf’s Lokale zurückziehen wie die Busan Biennale, die gerade unter dem Titel „We, On the Rising Wave“ über die Zukunft des Hafens in der zweitgrößten Metropole Südkoreas sinniert.
Die Kritik an dem Megalomanen, Spektakulären und Abgehobenen globaler Kunstevents ist berechtigt. Trotzdem leben sie von der Konfrontation mit dem Unerhörten, dem Nicht-Erwarteten, Noch-Nie-Dagewesenen. „Healing“ und „Care“ heißen die neuen Zauberworte des Kunstdiskurses. Aber Kunstausstellungen müssen herausfordern, schockieren, nicht bloß Communities streicheln oder Standorte reparieren wie die Manifesta. Mit seiner Arbeit „Zeige Deine Wunde“ rief Joseph Beuys‘ schließlich nicht nach einem Mullverband.
Deswegen sollten Biennalen und Großausstellungen sich auch nicht in das keimfreie, unpolitische Schneckenhaus eines luxuriösen Eskapismus zurückziehen, wie ihn die neue Kunstmesse Paris+ der Art Basel an der Seine so verführerisch inszenierte. Oder in die Idee einer überzeitlichen Ästhetik zurückfallen wie 1982 Rudi Fuchs mit seiner güldenen documenta 7.
Die globalen Herausforderungen: Von der Erosion der Demokratie über die neue Armut, Flucht und Migration bis zum Klimawandel tangieren auch die Kunst und Künstler:innen. Sie dürfen nicht allein der Politik überlassen werden, der ästhetisch-sinnliche Komplex muss sich hier einbringen. Modigliani-, Louise-Bourgeois- oder Olafur Eliasson-Retrospektiven haben wir genug gesehen.
Nicht etwa irgendeine Nationalgalerie, sondern das Zeppelin-Museum in Friedrichshafen macht es vor: „Fetisch Zukunft. Utopien der dritten Dimension“ heißt seine neue Winterschau. Auf seinem Online-„debatorial“ können alle mitdiskutieren.
Geboren aus dem Geist der kolonialen Repräsentation des 19. Jahrhunderts haben sich Biennalen und Großausstellungen zu Laboren des sozialen und ästhetischen Experiments, zu Foren der Welterfindung, dem Terrain einer Gegenwelt emanzipiert – dem Nukleus jeder Kunst.
Spätestens nach dem 2. Weltkrieg bezogen sie ihre Energie aus der Vision einer besseren Zukunft, einer lebenswerteren Welt, aus der Idee, dass alles ganz anders sein könnte. So haben sie eine Öffentlichkeit jenseits der ausgelaugten Polit-Rituale etabliert. Wann wurde zuletzt ein Wahlkampf unter dem Motto „All the worlds futures“ geführt – Okwui Enwezors Titel für die Venedig-Biennale 2015?
Keine Missverständnisse: Kunst ist nicht die bessere Politik. Aber sie kann die brennenden Fragen anders stellen. Dieses Potential schöpfen Kurator:innen dann am besten aus, wenn sie der Ästhetik den gleichen Rang einräumen wie der Ethik. Archive, Manifeste, Statistiken und Workshops sind das eine. Aber erst das befremdliche Objekt, das verstörende Setting, die verwirrende Bewegung lösen aus den Evidenzen des Alltags – der starting point jeder Veränderung.
Gebraucht würde diese Veränderung bei der Gattungsfrage Nummer eins: dem Überleben der Erde. Die Zeit ist reif für eine „grüne“ documenta, einer Schau ausschließlich zu dem Thema eines anderen Stoffwechsels mit der Natur. Gesucht wird eine ökologische Variante von Jean-Hubert Martins legendärer Schau „Magiciens de la terre“ – Joseph Beuys‘ 7000 Eichen goes planetary sozusagen.
Solch eine Schau könnte zukünftiges Ausstellungsmachen beispielhaft vorführen: Nachhaltig in Organisation, Aufbau und Architektur, als Kollaboration von Kurator:innen, Initiativen und Künstler:innen, divers beim Personal, offen für kunstnahe Disziplinen.
Dieser Ansatz ist kompatibel mit einer Ästhetik größtmöglicher Differenz zur sozialen Wirklichkeit. So ließe sich nach dem vermeintlichen Scheitern der Kollektive in Kassel auch der Ruf nach dem starken Kurator konterkarieren. Die Idee „One curator, one vision“ ist obsolet. Es kann im Kunstfeld kein Zurück zu einer auktorialen Sprecherposition geben wie sie noch Harald Szeemann oder selbst ein Teamworker wie Okwui Enwezor einnahmen.
Kurator:innen sind temporäre Treuhänder:innen der artifiziellen Reichtümer einer polyphonen Welt, in der die transatlantische Westmoderne nicht länger den Ton angibt. Ihr Privileg, ästhetische Stichworte zur Situation der Zeit zu positionieren, ist eine Macht auf Zeit. Kuratorische Verantwortung heißt: Transparenz bei der Strategie, Respekt vor den Artefakten, inklusiv bei Kommunikation und Debatte.
Sie müssen nachvollziehbar machen, wer aus welcher Perspektive welchem Publikum welche Geschichte über welchen Gegenstand erzählt. Und woher letztere stammen. ruangrupa ist das nicht ganz geglückt. Doch nichts anderes als die Anerkennung dieser Essentials steckt hinter ihrer weiter gültigen Idee einer „global ausgerichteten, kooperativen und interdisziplinären Kunst- und Kulturplattform“.
„Natur“. „Gerechtigkeit“. „Gleichheit“. Die Besucher des alten Gaswerks Müze Gazhane im Istanbuler Stadtteil Kadiköy staunten vergangenen September nicht schlecht, als sie die schwungvolle Performance „Flag’s Project“ bestaunten. Bei der Arbeit der indonesischen Künstlerin Arahmaiani für die 17. Istanbuler Kunstbiennale schwangen die Tänzer auf einer riesigen Bühne Fahnen mit Codewörtern des zivilen Ungehorsams, die schon im Gezi-Aufstand 2013 eine Rolle gespielt hatten.
Der letzte Kunstherbst am Bosporus war eine kleine Überraschung. Mit jedem Dekret ihres autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rückt die Türkei näher in Richtung Diktatur. Doch wie um klarzumachen, dass die unabhängige Kunst nicht aufgibt, zeigte sie demonstrativ Präsenz.
Dass die Biennale widerständige türkische Kunst- und Ökologieinitiativen mit internationalen Pendants in einem Dutzend Istanbuler Artspaces vernetzte, war dabei ebenso ein Zeichen wie die Präsentation der Funde aus dem bis dato nahezu unbekannten Frauenarchiv der Stadt Istanbul in einem von ihnen.
Von einer Revue der türkischen Performancekunst der 90er Jahre im Kunsthaus Salt bis zur feministischen Schau „Mis(s)placed Woman?“ in dem Kunstraum „Depo“ des seit viereinhalb Jahren inhaftierten Kunstmäzens Osman Kavala reichte die unübersehbare Anzahl von Ausstellungen rund um die Biennale.
Selbst der 2017 aus dem Amt als Chef des avantgardistischen Kunstverbunds „Salt“ gedrängte Kurator Vasif Kortun kuratierte eine Schau der israelischen Künstlerin Nira Pereg zu Sicherheit und Kontrolle im öffentlichen Raum. Das Yapı Kredi-Kulturzentrum im Herzen des Touristenviertels Beyoğlu zeigte unter dem Titel „Leben, Tod, Liebe und Gerechtigkeit“ eine Ausstellung, die das brutale Vorgehen des türkischen Militärs im kurdischen Südosten oder die verbotene Demonstration der „Samstag-Mütter“ aufgriff.
Und für ein Land, dessen Regierung regelmäßig die LGBTQ+-Märsche niederknüppeln lässt, war es ein Wagnis, dass die kommerzielle Kunstmesse „Contemporary Istanbul“ des Tourismus-Unternehmers Ali Güreli in ihrem Skulpturenpark die Plexiglas-Statue eines Kindes mit einer Regenbogenfahne aufstellte.
In diesem Jahr steht die Wiedereröffnung des privaten, vom Star-Architekten Renzo Piano neu errichteten Kunstmuseums Istanbul Modern der Unternehmerfamilie Eczacıbaşı an, die auch die IKSV-Stiftung finanziert, die die Biennale trägt. Anfang Oktober hatte der Staatspräsident selbst das neue Haus der Kunstsammlung der renommierten Istanbuler Mimar Sinan-Kunstuniversität eröffnet. Alles in Ordnung also mit der Kunst am Bosporus?
Das herbstliche Zwischenhoch ist kein Grund für Entwarnung. Wenige Monate vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im symbolträchtigen, 100. Jahr der Republikgründung 1923, verschärfen Erdoğan und seine AK-Partei ihren Zugriff auf das Land. Sie ziehen nicht nur die populistische Daumenschraube an, wie die vom Präsidenten höchstpersönlich vergangenen Sommer losgetretene Hatz auf die türkische Pop-Diva Sezen Aksu. Die hatte sich in einem Lied über den Propheten Adam lustig gemacht.
Reihenweise wurden auch Theateraufführungen, Konzerte und Festivals verboten. Vor kurzem verabschiedete das türkische Parlament zudem ein neues Mediengesetz. Wegen eines unbedachten Tweets kann man in der Türkei nun drei Jahre ins Gefängnis wandern. Und was nützen die 164 Museen, die Erdoğan in den letzten 20 Jahren eröffnet haben will, wenn sich dort immer weniger etwas trauen?
Es gehört freilich zu den Paradoxien der „Neuen Türkei“, die Erdoğan aufbauen wollte, dass der immer rigideren, politischen Dominanz keine kulturelle Hegemonie entspricht. „Politische Macht ist eine Sache. Sozial und kulturell zu regieren ist eine ganz andere Sache. Wir sind seit 14 Jahren an der Macht, aber wir haben immer noch Probleme im sozialen und kulturellen Bereich“ hatte der Staatchef schon 2017 vor der islamischen Erziehungsstiftung Ensar geseufzt.
Seine ein Jahr später lancierte Gegenoffensive in Gestalt der „Yeditepe-Biennale“ für die traditionellen Künste wie Kalligraphie, Miniaturmalerei oder Goldschmiedekunst, fand jedoch wenig Anklang. Was die Kunst angeht, hält sich die Intelligenz lieber an die Privatmuseen der großen, ökonomisch zwar opportunistischen, kulturell aber liberalen Industriellenfamilien wie Koç, Sabancı oder Borusan, private Galerien und Artspaces. Ihnen folgt neuerdings die Stadt Istanbul.
Das unter dem Namen „Müze Gazhane“ neu eröffnete alte Gaswerk im liberalen Kadiköy, Schauplatz von Arahmainis Flaggenparade, ist eines von sechs neuen, in der Türkei beispiellosen, öffentlichen Kunst- und Kulturzentren, mit denen Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CH-Partei neue Räume öffnen will. Der charismatische Kunstfreund hat ihr demokratisches Potenzial erkannt.
So gleicht die Lage der Kunst am Bosporus derzeit einem Kippmoment zwischen Repression und Selbstbehauptung. Gebannt warten alle auf den Ausgang der Wahlen im Juni. Gewinnt der trickreiche Präsident ein letztes Mal, dürften die letzten verbliebenen Künstler:innen und Intellektuelle ihre Koffer packen. Sollte die Opposition gewinnen, womöglich gar mit ihrem Traumkandidaten İmamoğlu, könnte sich das Kunstwunder wiederholen, das das Magazin „Newsweek“ 2005 mit seinem Titel „Cool Istanbul“ bejubelte.
Yurtta Sulh, Cihanda Sulh – Friede in der Heimat, Friede in der Welt. Den Satz rief Mustafa Kemal Atatürk, der Begründer modernen Türkei, erstmals am 20. April 1931 in der Öffentlichkeit aus.
Der ehemalige Berufssoldat des Sultans, der mit seinem Unabhängigkeitskrieg gegen die imperialistischen europäischen Mächte am Ende des 1. Weltkrieges den Bestand des Restreiches gesichert hatte, zog mit dieser Maxime einen Schlussstrich unter die die imperialistisch-expansionistische Außenpolitik des untergegangenen Osmanischen Reiches. Für ihn hatte der Aufbau der neuen Republik Vorrang.
Natürlich war diese faktische Neutralitätspolitik spätestens mit der späten Kriegserklärung gegen Hitler-Deutschland 1945 und mit dem Nato-Beitritt 1952 beendet. Atatürks Motto trugen freilich alle politischen Kräfte, die ihm folgten, weiter wie ein ehernes Mantra vor sich her.
Von kaum etwas könnte seine Republik weiter entfernt sein als von dieser idealistischen Idee. „Operation Klauenschwert“ nennt sich die Offensive, mit der die Türkei seit Mitte November gegen kurdische Stellungen in Syrien und im Irak vorgeht, die fünfte ihrer Art seit 2016. Um die 500 Ziele wurden nach Angaben von Verteidigungsminister Hulusi Akar angegriffen.
Die Luftangriffe richteten sich gegen Stützpunkte der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG), welche die Türkei als syrischen Ableger der PKK ansieht. Von den USA wird die YPG, die bei der Vertreibung der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) aus Syrien eine große Rolle spielte, dagegen unterstützt. Vor allemdie kurdische Hochburg Kobanê stand unter Artilleriebeschuss.
Die türkische Offensive begann wenige Tage nach einem Anschlag in Istanbul mit sechs Toten Mitte November, für den Ankara der PKK die Schuld gab. Die verbotene Arbeiterpartei und die syrischen Kurden wiesen jedoch jegliche Verwicklung in den Anschlag zurück.
Dass die Türkei für ihr Vorgehen Paragraph 51 der UN-Charta, das Recht auf Selbstverteidigung, in Anspruch nehmen kann, bezweifeln Expert:innen. Für Andreas Schüller, Leiter des Bereichs Völkerstraftaten European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin bricht Erdoğan das Völkerrecht, so wie er die „territoriale Unversehrtheit“ der Länder missachtet. Inzwischen droht er sogar mit einer Bodenoffensive.
Ankara argumentiert, es wolle eine „Schutzzone“ 30 Kilometer hinein in syrisches Gebiet errichten, um Flüchtende aufnehmen zu können. Letzten Endes will der Präsident aber das kurdische Autonomieprojekt, das in den letzten zehn Jahren im Nordosten Syriens und im Irak entstanden ist, zerstören.
Der grimmige Autokrat fürchtet dessen Vorbildwirkung, insbesondere im kurdischen Südosten der Türkei. Deswegen schreckt er auch vor Angriffen auf zivile Beamte aus der Region nicht zurück.
Faktisch folgt er freilich der fatalen Linie aller türkischen Regierungen seit Atatürk. Ein Krieg, den das Land nie wird gewinnen können. Es sei denn, die Türkei löschte ein ganzes Volk aus.
Als einzige Volksgruppe gingen die Kurden ohne eigenen Staat aus den Friedensverhandlungen nach dem 1. Weltkrieg. Stattdessen blieben sie über den Irak, den Iran, Syrien und die Türkei verteilt. Schätzungen zufolge leben dort heute 30 Millionen Kurd:innen.
Auch wenn es aufgrund dieser brutalen Linie so aussieht. Gänzlich ist die Türkei nicht auf Kriegskurs umgeschwenkt. An anderen Fronten stehen die Zeichen nämlich auf Entspannung. Und bei zentralen, weltpolitischen Konfliktfeldern gefällt sich Erdoğan in einer ungewohnten Rolle.
Drei Jahre zuvor hatte sich der fintenreiche Präsident noch als großer Krawallmacher aufgespielt. Gegen den Willen des Nato-Partners USA setzte er den Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 durch. Und war daraufhin von dem F-35 Kampfjetprogramm der USA ausgeschlossen worden.
Dieser Schaukelkurs, einerseits die Bindung an die Nato nicht aufzugeben, sich regional aber alle (Bündnis-)Optionen offenzuhalten, erweist sich im Ukrainekrieg plötzlich als Vorteil. Erdoğan preist die Nato, verweigert sich aber Sanktionen gegen Russland.
Mit Putin kooperiert er in Syrien, der Ukraine verkauft er Waffen, insbesondere die wichtigen TB 2-Drohnen, entwickelt von dem Baykar-Konzern seines Schwiegersohns Selçuk Bayraktar. Mit ihrem Einsatz gelang der Ukraine etwa die Rückeroberung der Schlangeninsel im Südwesten.
Plötzlich steht der Präsident, der mit seinem aggressiven Auftreten wegen der Schürfrechte für Öl und Gas zudem alle Anrainerstaaten der Ägäis gegen sich aufgebracht hatte, international als großer Vermittler da.
Schon im März bot er Istanbul als Ort für direkte Gespräche zwischen Russland und der Ukraine an. Als letzten Erfolg konnte er im Juli das Abkommen mit Russland präsentieren, das den Export von Getreide aus der Ukraine sicherte.
Die Ausnahme von Erdoğans partieller Deeskalationsstrategie ist das Verhältnis zu Griechenland. Es ist ein revisionistisches Syndrom im Spiel, wenn der Präsident den 1923 im Vertrag von Lausanne gezogenen Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern rhetorisch aufkündigt und die griechische Souveränität über Inseln wie Rhodos, Lesbos, Rhodos, Samos, Chios und Ikaria in Frage stellt.
Es ist noch nicht lange her, dass in der Türkei Karten des Staatsgebietes im Netz zirkulierten, die bis zum griechischen Thessaloniki und Varna in Bulgarien reichten.
Erdoğan verband dies stets mit Attacken auf den türkischen Verhandlungsführer in Lausanne, Ismet Inönü, Atatürks engen Kampfgefährten und späteren Staatspräsidenten. Der türkisch-griechische Grenzstreit ist auch ein Stellvertreterkrieg gegen den säkularen Kemalismus und seine Gründerväter.
Jedenfalls: Mal lässt Erdoğan Kampfjets über den Inseln aufsteigen. Mal muss als Begründung die Stationierung griechischer Truppen auf ihnen herhalten. Vor wenigen Tagen eskalierte er den Streit mit der Drohung „Wir könnten eines Nachts kommen“ Griechenland gar mit dem Beschuss der neuen türkischen Tyfun-Rakete.
Wenn Erdoğan behauptet: „Wir haben dort Werke, Moscheen und Geschichte“ stilisiert er sie, ganz der Ultranationalist, dann wieder zu Kernstücken türkischer Identität.
Im Kern geht es freilich um wirtschaftliche Interessen. Die Expedition des mit der türkischen Flagge geschmückten Forschungsschiffs „Abdulhamit Han“ wegen der Gasvorkommen in der Ägäis eskortierte in diesem Sommer die türkische Armee.
Mit der Mischung aus Kooperation und Konfrontation geht es Erdoğan letzten Endes darum, die Rolle seines Landes als Regionalmacht zu wahren.
Schon der damalige Ministerpräsident und spätere Staatspräsident Turgut Özal (1983-1993) verfolgte diesen Strategiewechsel von der atatürkschen Neutralität und der strategischen Westbindung hin zu diesem Ansatz.
Erdoğans früherer außenpolitischer Berater, Außenminister, Ministerpräsident und heutiger innenpolitischer Gegner Ahmet Davutoğlu lieferte mit seinem Buch „Stratejik Derinlik – Strategische Tiefe“ 2001 dann die intellektuelle Blaupause dafür.
Die Türkei solle, schrieb er, zu ihrer „historischen und geographischen Identität“ zurückfinden, ihre historischen und kulturellen Wurzeln in den Nachbarregionen anerkennen.
Diese multipolare und proaktive Ausrichtung der türkischen Außenpolitik mit ihrem neuen Interesse für den Nahen Osten, den Kaukasus, Zentralasien und den Balkan, konkretisierte Davutoğlu 2012 mit Vermittlungen zwischen Syrien und Israel, Bosnien und Serbien, Armenien und Aserbaidschan im Bergkarabach-Konfliktund im Dialog mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad.
Zugleich kompensierte die Türkei mit diesem selbstbewussten Auftreten die fünfzigjährige Zurückweisung ihres Strebens nach einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union, was ihr prompt den Vorwurf des Neo-Osmanismus eintrug.
Diese Strategie der Kooperation und Deeskalation unter dem Stichwort „zero problem policy“ (mit den türkischen Nachbarn) scheiterte spätestens seit dem Arabischen Frühling 2010.
Mit seiner Parteinahme für die ägyptische Muslim-Bruderschaft und die islamischen Parteien in Tunesien, Libyen und Marokko, glaubte Erdoğan sich an die Spitze dieser Bewegung setzen zu können.
Nach deren Scheitern laviert er zwischen den Fronten, um seine regionalen Ambitionen zu retten und den schiitischen Iran zu isolieren. Erdoğan schrumpfte vom eingebildeten Hegemonen zum getriebenen Bittsteller.
Während der Fußballweltmeisterschaft umarmte er in Qatar den ägyptischen Präsidenten as-Sisi, der seinen Glaubensbruder Mohammed Mursi in Kairo weggeputscht hatte.
Deswegen traf er im April Saudi-Arabiens Machthaber Bin Salman, den mutmaßlichen Auftraggeber des Mordes an dem Journalisten Jamal Kashoggi 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul, in Dschidda und empfing ihn zwei Monate später gar im Präsidentenpalast in Ankara.
Deshalb reaktivierte er die diplomatischen Beziehungen mit Israel, die nach Erdoğans antisemitischen Ausfällen gegen den damaligen israelischen Staatspräsidenten Shimon Peres auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum 2009 und einem Zwischenfall im Mittelmeer ein Jahr später auf Eis lagen.
Deswegen reiste er in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), deren neue Allianz mit Israel seine eigene Rolle zu relativieren droht.
Diese Initiativen folgen vor allem dem Druck des wirtschaftlichen Niedergangs in der Türkei, deren Inflationsrate unaufhörlich auf die 90 Prozent-Marke zusteuert. Prompt kündigten Saudi-Arabien, Qatar und die VAE kündigten Milliarden-Investitionen und Einlagen in die türkische Zentralbank an.
Ob diese Hilfe Erdoğans Aussichten in den bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2023 verbessern wird, steht genauso dahin wie der Versuch, die Stimmen der Nationalisten und seinen rechtsextremen Koalitionspartner, die MH-Partei unter ihrem martialischen Führer Devlet Bahçeli an sich zu binden.
Dieses Motiv steht ebenso hinter der Bombardierung der Kurden wie hinter der Drohung des Präsidenten, den längst beschlossenen Beitritt von Finnland und Schweden zur Nato zu verhindern. Der Schritt benötigt die Zustimmung aller Mitglieder der Militärallianz. Beiden Ländern wirft er vor, Anhänger der PKK zu schützen.
Erdoğans vor vielen Jahren lanciertes Ziel, die Türkei zum Republik-Jubiläum am 29. Oktober 2023 unter die zehn größten Wirtschaftsnationen der Welt zu katapultieren, ist in weite Ferne gerückt. Der Bloomberg-Index zählt sie stattdessen zu den fünf „most miserable economies“ der Welt.
Das „Jahrhundert der Türkei“, welches der Präsident im Oktober seinem Wahlvolk dennoch trotzig prophezeite, droht, ein Jahrzehnt des Niedergangs zu werden.
Die politische Polarisierung vor den Wahlen in der Türkei schreitet voran. Parlamentarier seiner AK-Partei brachten einem Oppositionsabgeordneten kürzlich in der türkischen Nationalversammlung während einer hitzigen Debatte eine Kopfverletzung bei.
Selbst wenn der Krieg in der Ukraine mit der Vermittlung Erdoğans beendet würde, könnte es im glorreichen Jubiläumsjahrheißen: „Friede in der Welt – Krieg in der Heimat“.
„Man muss sich an die Regeln halten“. Mit diesen Worten reagierte kürzlich der qatarische Cheforganisator der Fußballweltmeisterschaft auf eine Frage des ZDF nach der Lage der LSBTQI*-Community in seinem Land. So als ob es dabei um ein Problem wie die Straßenverkehrsordnung ginge.
Welche Realität sich hinter der scheinbar harmlosen Vokabel „Regel“ verbirgt, zeigt nun Khaled Alesmael. In zehn Episoden zeichnet der syrische Autor ein beklemmendes Bild des Alltags homosexueller Männer in arabischen Ländern zwischen Unterdrückung und Selbstverleugnung.
Da ist der junge Syrer Barada, der von seinem Schwager regelmäßig vergewaltigt wird, weil der findet, dass ihn seine Frau, Baradas Schwester, sexuell nicht ausreichend befriedigt.
Scheinehe und Vergewaltigung
Da ist Matar aus dem syrischen Raqqa, der sich mehr für Penisse als Brüste interessiert, die Flucht aus seiner, von seiner traditionellen Familie arrangierten Scheinehe aber erst wagt, als der Islamische Staat die Stadt 2013 erobert.
Der Name der Gasse in Kairo, in der der junge Kellner Sphinx eines Tages in einem modrigen Hamam landet und das 2014 von der ägyptischen Polizei ausgehoben wird, fungiert als Sinnbild: Bab al-Bahr, das „Tor zum Meer“, das Hoffnung signalisiert, ist eine Sackgasse.
Alesmael war 2018 mit seinem Debüt „Selamlik“ europaweit bekannt geworden. Darin verarbeitete der 1979 in Damaskus geborene Schriftsteller, der heute in London lebt, sein eigenes Schicksal als Schwuler: Die Flucht aus Syrien 2014 über die Balkanroute nach Schweden.
In seinem zweiten Buch greift Alesmael über seine individuelle Biografie hinaus. In den Liebes- als Leidensgeschichten von Männern aus seinem Kulturraum belässt er es aber nicht beim nüchtern-dokumentarischen Report.
Der Autor montiert das in Interviews und Gesprächen Recherchierte in eine hybride Textform. Er lässt die Protagonisten ihre Lebensgeschichte aus einer emotionalen, unmittelbaren Perspektive – Briefen – Revue passieren.
Diese reichert er mit seinen eigenen Reflexionen oder Bruchstücken aus Chatverläufen an. Die Liebe, die Trauer und den Verlust, die seine Protagonisten erfuhren, überführt er dabei in bezwingende, niemals kitschige oder pathetische Metaphern.
Das Leben eines Vogels
„Eine Vorstellung vom Leben eines Vogels, dessen Flügel nur ich sehen konnte. Bei jeder Drehung wuchsen sie mir aus dem Rücken. Ich hob von der Erde ab und ließ meine Last fallen wie einen schweren Regen, der sich in das schwarze Meer unter meinen Füßen ergoss“, lässt Alesmael den Palästinenser Safadi seine Vorstellung von einem anderen Leben erklären. Schon als kleiner Junge kleidet er sich gern als Frau. Nach der Flucht aus Syrien wird er in Berlin Bauchtänzer.
Wenn das Oxymoron „poetisches Sachbuch“ einmal zutrifft, dann in Alesmaels literarisch verdichteten, von Christine Battermann so sensibel wie präzise übersetzten Lebensgeschichten, die ohne diesen Autor unerzählt geblieben wären – Literatur als Akt poetischer Solidarität.
Schwulsein sei ein „geistiger Schaden“, befand der qatarische Funktionär in seinem Interview. In Alesmaels wunderbarem „Ein Tor zum Meer“ bewahrheitet sich dagegen Rosa von Praunheims legendärer Filmtitel „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“.
Khaled Alesmael: Ein Tor zum Meer. Briefe von arabischen Homosexuellen. Aus dem Arabischen von Christine Battermann. Albino, Berlin 2022, 208 Seiten, 22 Euro