Die Kraft des Rätsels. Kunst und Populismus.

„Für einen linken Populismus“. Es ist kaum drei Jahre her, dass Chantal Mouffe in der Debatte um den Umgang mit den Politikstrategien der Neuen Rechten mit einer überraschenden Intervention provozierte. Die Politologin reihte sich damit ein in die lauter werdenden Rufe von der progressiven Seite, den Populismus nicht bloß zu schmähen.

Der belgische Historiker David van Reybrouck etwa sieht in der Unterrepräsentation der Unterschicht in der Politik die Achillesferse der Demokratie. „Das Schicksal der Geringqualifizierten ist zu wichtig, um es dem dunklen Populismus zu überlassen“, begründete er ein Jahr vor Mouffes Intervention in einem Essay sein Plädoyer für eine „große linkspopulistische Partei“.

Die Versuche der Ehrenrettung eines in Verruf geratenen Begriffs hatten einiges für sich. Schließlich war es linker Politik zu allen Zeiten darum gegangen, eine Volksbewegung gegen ungerechte Herrschaft oder strukturelle Gewalt in all ihren Schattierungen zu initiieren. Schon in der späten Römischen Republik versuchten die „Popularen“ Land- und Sozialreformen gegen die „Optimaten“ durchzusetzen.

Die Einwände gegen den Populismus liegen freilich ebenso auf der Hand. Würde der Versuch, die Linke im Kampf gegen Postdemokratie und Neoliberalismus dadurch schlagkräftiger zu machen, dass sie Methoden der rechten Populisten übernimmt, am Ende nicht selbst in der Sackgasse des Völkischen, Rassistischen und Xenophoben enden?

Wer könnte garantieren, dass sich so tatsächlich der progressive „kollektive Willen“ formen ließe, der Mouffe vorschwebt? Auch Mouffes Mahnung, der Linken könne die „Radikalisierung der Demokratie“ nur gelingen, wenn sie erkenne, wie wichtig Affekte als treibende Kraft in der Politik seien, bleibt einem angesichts des Washingtoner „Volks“-Aufstandes vom 6. Januar im Halse stecken.

Was die Kultur im Allgemeinen anbetrifft, rennen Mouffe et al. mit ihrem Schlachtruf gleichsam offene Türen ein. Das Verhältnis der Linken zum Populären ist spätestens seit Antonio Gramscis Entdeckung der Massenkultur als Medium und Schauplatz der Kämpfe um Hegemonie tendenziell positiv.

Selbst die Kultur der (bürgerlichen) Moderne kennzeichnet der Versuch, die Grenze zwischen Kunst und Leben, Kunst und Volk zu überwinden, sich das Populäre einzuverleiben – vom Kubismus über die Pop- bis zur Street-Art. Den vorläufigen Höhepunkt des ästhetischen Populismus markiert der britische Künstler Banksy.

Wer die Inflation von Ausstellungen diverser Moderichtungen und – schöpfer, über Marvel-Comics oder Rockstars wie David Bowie oder Björk bis hin zu dem brutalen Populisten Ai Weiwei in den letzten Dekaden in den großen Museen der Welt beobachtet, kann ohne Übertreibung behaupten, dass die großen Kulturinstitutionen dem Populären Raum einräumen, es nobilitieren wollen. Mit der Gefahr, dadurch ihre Rolle als Orte aufzugeben, die sich von der Konsumgesellschaft unterscheiden.

Populistische Kunst für das Volk, nicht für die kulturelle Elite, leitet sich aus den Formen und Zeichen der populären Massenmedien und Alltagsikonen ab. Indem sich KünstlerInnen in den Sozialen Medien offensiv als populäres Symbol inszenieren, spiegeln sie diesen populären Markt wider.

Ob derlei populäre Kunst den gesellschaftlichen Fortschritt befördert hat, ließe sich allerdings bezweifeln. Andy Warhols Siebdrucke zum Electric Chair aus den Death-and-Disaster-Paintings haben den Vormarsch eines Todesstrafen-Populismus à la Donald Trump nicht stoppen können.

Welche konkreten Formen der Kunst Mouffe in dem gegenhegemonialen Stellungskampf präferiert, bleibt vage. Offenbar geht es nicht um eine linke Variante der Quote, die neurechte Bewegungen etwa dem nationalen Schlager in den Hitparaden einräumen wollen. Ihr geht es eher um „künstleraktivistische Praktiken“ wie denen Alfredo Jaars, des Künstlerduos Yes Men oder ein „Ensemble von Sprachspielen“. Ihnen traut sie „gegenhegemoniale Interventionen“ zu, die „kleine Risse im System“ schaffen könnten.

Mouffe geht es um die Produktion von „Ideen, denen die Macht eignet, zu berühren“. Keine antikapitalistische Anstrengung komme im semiotisch, performativ und emotional kodierten Postfordismus mehr ohne die Mobilisierung der Affekte und Leidenschaften aus. Doch wenn sie die Kunst als Medium definiert, das dabei helfen soll, neue „Formen der Identifizierung“ zu ermöglichen, reduziert sie diese auf die Rolle eines Emotions- und Zeichengenerators.

Und auch wenn sich dieses „andere Begierde- und Affektregime“ an einer egalitären und demokratischen Vision orientierte, diente die Kunst in ihrem Konzept dann einem politischen Zweck: der hegemonialen Operation, das zu konstruieren, was sie ein „Volk“ nennt (und nicht etwa wie Hans Haacke „Die Bevölkerung“).

Und sie diente dem Zweck, die „agonistische Dynamik“ gegen die postpolitische Erstarrung zu befördern. Populismus im Sinne des ressentimentfreien Rückgriffs auf das Populäre und Alltägliche kann die Kunst entmystifizieren und sie als Teil einer breiteren Kultur markieren. Kunst, die diesen Terminus verdient, erfordert jedoch Nachdenken. Ohne Diskurse, Geschichte und Theorie würde sie diese auf einen billigen Nervenkitzel reduzieren.

Die Schwundstufe des kulturellen Populismus lässt sich an den Hinterlassenschaften des vierjährigen, künstlerischen Sturmlaufs gegen Donald Trump ablesen: Trump mit Hitler-Bärtchen, als Klopapierrolle, als riesiger Luftballon, das ihn als Baby in Windeln und mit Handy zeigt. Mal bläht sich der Autokrat zum XL-McBurger aus Wurst- und Käsescheiben, mal entfährt der amerikanischen Freiheitsstatue die Sprechblase „Help“.

Kunst ist komplex. Sie wird immer in Spannung zu populistischen Idealen stehen. Sie bildet Gesellschaft und Gemeinschaft. Sie ist aber auch ein System, das die eingeübten Codes, Bildzeichen und das Vokabular stört. Ihr Charakteristikum ist die Kraft eines Rätsels, das nicht sofort zu entschlüsseln ist. Sie fordert die alltägliche Erfahrung heraus, setzt auf das Unerwartete. Mit anderen Worten: Sie ist das genaue Gegenteil von Populismus.

Edmund de Waal gibt seine „Library of Exile“ nach Mossul

Bücher und Manuskripte, Landkarten aus der osmanischen Epoche, irakische Zeitungen vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Als die Dschihadisten des „Islamischen Staats“ im Sommer 2014 die Stadt Mossul einnahmen, zerstörten sie nicht nur antike Statuen.

Auch die Zentralbibliothek ließen sie in Flammen aufgehen. Die UNESCO sprach von „einem der verheerendsten Akte der Zerstörung von Bibliotheksbeständen in der Geschichte der Menschheit“. Nur 30.000 von einer Million Büchern überstanden die barbarische Attacke.

Rückgängig machen lässt sich der Akt von Vandalismus nicht mehr. Doch jetzt wird immerhin der Grundstock für einen Neuaufbau gelegt. Denn der britische Künstler und Autor Edmund de Waal wird rund 2000 Werke seiner „Library of Exile“ an die Unibibliothek der nordirakischen Metropole spenden, die damals in Flammen aufging.

Der 1964 in Nottingham geborene de Waal ist durch seine Keramiken berühmt geworden. Der Abkömmling der jüdischen Bankiers-Familie Ephrussi hatte Keramik studiert. Seit 2004 ist er Professor für Keramik an der Londoner University of Westminster. Seine Porzellangefäße werden in Museen wie dem Victoria & Albert oder der Tate Britain ausgestellt.

2010 wurde er mit seinem Buch „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ berühmt. Am Beispiel der Sammlung von 264 Netsuke, japanischen Miniatur-Schnitzereien aus Holz und Elfenbein, die sein Urgroßonkel Charles Ephrussi in den 1870er Jahren in Paris erwarb, rekonstruiert er das Schicksal seiner Familie, die über Odessa nach Wien kam, von den Nazis enteignet wurde und schließlich nach London flüchtete.

Besonders fasziniert hatte den jungen Edmund die riesige Bibliothek seines Urgroßvaters Viktor. Kein Wunder, dass er die Schließung vieler Bibliotheken in den letzten Jahrzehnten, wie er „Monopol“ erklärt, „als die schwerste Beschädigung, die der sozialen Struktur in den letzten Jahrzehnten zugefügt wurde“ sieht. De Waal wollte ein Zeichen setzen: „Ich musste etwas unglaublich Positives tun: Eine neue Bibliothek erstellen, etwas gegen die Landschaft der Polarisierung und Rhetorik setzen“.  

Die Exil-Bibliothek, die er zusammenstellte, war ein Höhepunkt der letzten Venedig-Biennale. De Waal ließ in der Scola Anton im jüdischen Ghetto und im Ateneo Veneto auf dem Campo Fantin einen weißen Pavillon installieren. Dessen Schauwände waren mit flüssigem Porzellan bemalt und mit den Namen berühmter, zerstörter Bibliotheken beschriftet – vom mesopotamischen Ninive über Tripoli im Libanon bis zu Mossul im Irak.

Für die künstlerische Herangehensweise hatte sich de Waal bewusst entschieden. Schon als Jugendlicher entwickelte er eine Obsession für das weiße Gold. Mit 17 Jahren berührte er in Japan zum ersten Mal Porzellanerde. Für ihn ist es das Material, das „jede Denkbewegung, jeden Wechsel der Gedanken aufzeichnet“.

Als „Fauvisten des Weiß“ bezeichnet sich der Künstler deswegen gern. Die Farbe symbolisiert für ihn Unschuld und Reinheit. Aber auch, wie das besessene Bedürfnis danach, zum Beispiel in Diktaturen, zum genauen Gegenteil führen kann.

Alle Autorinnen von de Waals „Library of Exile“ hatten ihr Land verlassen müssen. Sie enthält Werke von Ovid über Tacitus, Voltaire bis zur Kinderbuchautorin Judith Kerr. Konzipiert war die zweiteilige Installation als wachsende Bibliothek: Die Besucher konnten weitere Werke zu den Büchern aus 100 Ländern vorschlagen.

Wer aus der offenen Installation in Venedig nach oben an die Decke des Ateneo schaute, erblickte Heinrich Heines Satz: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“. Nach Venedig war sie in Dresdens Japanischem Palais zu sehen, zuletzt bis Ende Januar 2021 im British Museum. „Es ist das Persönlichste“ und Bedeutendste, was ich getan habe“, gesteht de Waal. „Es fühlt sich wirklich wie ein bisschen schöner Aktivismus an“.

Für sein Thema von Heimat, Vertreibung und Exil hätte sich der Künstler keinen besseren „Library“-Standort auswählen können als die irakische Bibliothek. Mit Unterstützung der Hilfsorganisation Book Aid International wird sie dort nicht als Installation wieder aufgebaut, sondern in den Bücherbestand integriert.

Ihre porzellanbedeckten Schauwände wandern in das Londoner Warburg-Institut. Doch an ihren Ex Libris werden die Bücher in Mossul als Teil der „Library“ erkennbar sein. Auf deren Website lässt sich weiterhin ihr Originalbestand recherchieren.

Natürlich kann de Waals Bibliothek nicht die uralten Korane oder islamischen Handschriften ersetzen. Seine Hoffnung für eine „Wiederbelebung nach den Jahren der Repression“ gründet er auf einer anderen Beobachtung: „Die Menschen in Mossul“, erklärt er, „haben einen traumatischen Umbruch erlebt und einige haben möglicherweise ihre Heimat verlassen, um von vorne zu beginnen, während andere in der Lage waren zu bleiben und jetzt ihre Stadt und ihre Universität wieder aufbauen und ihre Kultur allmählich wiederherstellen. Wir haben festgestellt, dass sich Exilanten oft viel bewegen – sie gehen, gehen zurück, gehen wieder, bewegen sich woanders hin und diese diasporische Reise führt zu neuen Gesprächen in neuen Sprachen und eine gegenseitige Befruchtung von Ideen. Die Sprache ist niemals statisch und Bibliotheken sollten es auch nicht sein“.

https://libraryofexile.infoteca.it

Corona: Wo sind die Berliner Nächte hin?

„Was in der Welt passiert und was uns amüsiert, geschieht besonders in der Nacht.“ Wehmütig geht mir dieser Tage immer der Song durch den Kopf, den Elisabeth Flickenschildt alias Nelly Oaks, Wirtin der verräucherten Hafenspelunke „Mekka“ in Edgar Wallace unvergessenem London-Krimi „Das Gasthaus an der Themse“ singt.

Zum Ausbruch des Coronozän hatte ich mir diese nächtlichen Spaziergänge angewöhnt. Doch wenn ich pünktlich um halb elf den Süden Kreuzbergs zu umrunden beginne, wird Nellys Lockruf jedes Mal neu Lügen gestraft: Seit einem Jahr nur noch gähnende Leere.

Klar, die leere Stadt bei Nacht hat ihre Reize. Aber der Späti kann doch nicht das letzte Wort zum Berliner Nachtleben sein. Stolperte man früher an jeder Ecke über eine spontane Bottle-Party, in ein schummriges Etablissement oder in eine Jam-Session on the boardwalk, trifft man jetzt nur noch depressive Spaziergänger. Oder ein paar dunkle Gestalten, die zwar in dunklen Ecken lauern, aber doch nur auf ihren Smartfons herum daddeln.

Immerhin da hat Nelly Oaks Recht: „Wer dunkle Wege geht, an Straßenecken steht, tut dies besonders in der Nacht!“ Leider tun das auch die Gassi-Geher, die ihrem Hasso letzte Gelegenheit bieten wollen, sich digestive Erleichterung zu verschaffen. In ihren schlammfarbenen Parkas wähnen sie sich unsichtbar wie Stealth-Bomber. Und im Schutze der Nacht fällt das schmutzige Geschäft, dem sie verschämt Vorschub leisten, nicht so auf.  

Umso entzückter waren Mario und ich, als bei einem unserer letzten Midnight-Trotts plötzlich ein schneeweißes Mercedes-Ufo mit dunkel getönten Seitenscheiben neben uns bremste. Drei konturscharf rasierte Jungs pellten sich in schwarzen Trainingshosen, Kunstfell-Parkas und blendend weißen Sneakers aus dem Gefährt und verschwanden in Lichtgeschwindigkeit in einem Keller. Hallo! Was ging denn hier ab?

„Cafe Herzlos“. Auf diese Tarnung konnten nur besonders gerissene Unterweltler verfallen sein. Wir konnten nicht ausmachen, ob der unscheinbare Abgang zu einer Bar, einer Spielhölle oder einem Verschwörernest führte. Das Versprechen auf nachtaktives Allerlei machte uns mutig, wir klopften. Vages Dämmerlicht im Hintergrund, süß waberte Aprikosenrauch aus der rissigen Holztür. Doch niemand öffnete.

Enttäuscht schlichen wir weiter. Auch das verführerisch violett illuminierte Ladenlokal auf der anderen Straßenseite erwies sich nicht als temporäre Lasterhöhle, sondern als mit Laken verhangenes Wohnzimmer, in dem drei apathische Matratzenbewohner auf Displays starrten.

Die vage Performance an der Straßenecke stellte sich als in Goldfolie gehüllter Nichtsesshafter heraus, der mit einer Flasche Wodka an den Lippen Stoßseufzer murmelte. Plötzlich tönte von den Höhen des Viktoriaparks chorischer Lärm. Nichts wie hin!

Wir wagten den Aufstieg über die spiegelglatte Serpentine. Auf den Bänken vor dem verrammelten Schinkeldenkmal hatten ein paar Verwegene ein DJ-Set aufgebaut. Aus den Lautsprechern auf den Bänken zu Füßen des Schinkelkreuzes schrillte Bon Jovis „One Wild Night“.

Davor loderte ein Lagerfeuer zum Corona-Burnout, umstellt von einem Schock Vermummter. Herrlich. Die Truppe hatte die Berliner Nächte seligen Andenkens noch nicht aufgegeben. Beseelt griffen wir zu der lauwarmen Sangría in Pappbechern.  

Am Fuße des Feier-Bergs konnten wir sehen, wie ein blau-silberner Streifenwagen mit zwei maskenbewehrten Gesetzeshütern im Schritttempo den Berg umkreiste. Wie sang doch Nelly Oaks? „Von abends bis morgens tut sich so mancherlei, und wenn es hinterher in keiner Zeitung steht, merkt es auch nicht die Polizei.“

Alltag mit Corona: Berlin

Die Gesichter im Halbdunkel sind nur schemenhaft zu erahnen. Die Augen sind auf das fluoreszierende Display gerichtet. Wer zu Beginn des Coronozän, des neuen Zeitalters im Zeichen des Virus, zum Spaziergang aufbrach, traf meist auf Konstellationen wie diese.

Berlin war da keine Ausnahme in dem globalen Trend. Menschen, die sich in Hauseingänge, Parkecken oder Bushaltestellen drückten, immer auf der Hut vor allzu eng aufschließenden Passanten oder den zirkulierenden Ordnungskräften.

Trotzdem entbehrte es natürlich nicht einer gewissen Ironie, dass die Pandemie ausgerechnet in der Hauptstadt der deutschen Demokratie alle zurück in eine rudimentäre Öffentlichkeit zwang, die an schlechte Gangster-Filme erinnerte.

Vielleicht war auch der Reiz, dieses symbolische Terrain zurückzuerobern, die treibende Energie hinter dem Furor, mit dem die sogenannten Querdenker Ende August den Reichstag zu stürmen versuchten. Oder wenige Monate später ein selbsternannter Globalisierungsgegner sein Auto gegen das Metallgitter von Angela Merkels Kanzleramt steuerte.

Gehörte es doch zu den paradoxen Erfahrungen der Pandemie, dass die Macht in Berlin sich umso unsichtbarer machte, je vehementer sie zuschlug. Täglich sah man die Kanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen auf der Mattscheibe Maßnahmen verhängen.

Im real existierenden Regierungsviertel im Spreebogen herrschte freilich gespenstische Leere. Hatte man Angela Merkel noch am Abend des ersten Lockdown-Beschlusses getroffen, wie sie den Einkaufswagen durch ihren Lieblings-Supermarkt an der Friedrichstraße schob, war sie von da an ins Digitale entrückt.

Jedenfalls war es ein ziemliches Aufatmen, als die Zeit, in der infektionsfördernde Zusammenrottungen als Straftat galten, endlich endete. Und jetzt geht das Ganze schon wieder los. Zum zweiten Mal geschlossene Grenzen, Ausgangssperren soweit das Auge reicht, wieder steigen überall die Todeszahlen.

Zu Beginn der Pandemie hatten die Berliner noch getan, als ob für die Hauptstadt des Cool Sonderregeln gälten. Vom Ku’damm bis zur Friedrichstraße drängelten sich die Massen als wären sie immun gegen das Virus. In der Berliner U-Bahn husteten sich alle demonstrativ an. Und von der Bergmannstraße bis zur Partymeile an der Oberbaumbrücke schien der paradierenden Szenemeute aus Friedrichshain-Kreuzberg das Wort Maske ein nie gehörtes Fremdwort.

Die heranschwappende zweite Welle schien der Stadt dann aber gehörig in die Glieder zu fahren. Anfang Oktober zierte die wenigen Litfaßsäulen, die der Stadt, in der dieses Klebemedium entstand, noch geblieben waren, eine ziemlich rüde Plakatserie.

Das Stadtmarketing hatte dort ein Bild aufhängen lassen, das eine ältere Frau mit großer Mund-Nasen-Bedeckung zeigt, die dem Betrachter den Mittelfinger entgegenstreckt. Dazu der Spruch: „Der erhobene Zeigefinger für alle ohne Maske. Wir halten die Corona-Regeln ein“.

Selbst Michael Müller, Berlins unfassbar blass regierender Bürgermeister, erwachte plötzlich aus der Narkose. „Das ist peinlich“ beendete der große Zauderer den missglückten Versuch, der permissiven Metropole die Zügel der Distanznahme anzulegen. Musste angesichts der steigenden Inzidenzzahlen dann aber doch in den sauren Apfel des neuerlichen Lockdowns beißen.   

Dass die notorischen Partygänger nicht mehr im Berghain, Berlins mythischem Nachtclub, in schweißtreibender Enge feiern konnten, leuchtete ihnen langsam aber sicher ein. Es war freilich nur eine Frage der Zeit, dass sie Ersatz für die untersagte Vergemeinschaftung suchen würden. Irgendwann würde sich der Druck im Dampfkochtopf Pandemie sein Ventil suchen.

Solidarische Single wie ich können die vermaledeite Kontaktsperre noch mit dem Gang zum Supermarkt kompensieren. Zwischen Tiefkühlpizza, Äpfeln und Klopapier gaukele ich mir vor, in Gesellschaft und unterwegs gewesen zu sein. Und die Jungs in den türkischen Nachtbars wechseln jetzt halt mitternachts von den Outdoor-Lounges auf den Boden ihrer abgedunkelten Spielhöllen.

Die im ewigen Loop zwischen Barcelona, Berlin und Istanbul kreisende, Easy-Jet-Fraktion dagegen tut sich schwer damit, nur noch das Tempelhofer Feld umkreisen oder Radtouren in den Spreewald unternehmen zu dürfen.

Inzwischen trifft man beim nächtlichen Kontrollgang auf immer demonstrativere Corona-Parties. Zu Füßen des Wasserfalls in Kreuzbergs winterlich entblätterndem Viktoriapark formieren sich die Nachtschwärmer kurz vor Mitternacht zur kritischen Masse. Am Black Friday kam dann die pandemische Kernschmelze.

„Der November ist der Monat der Eigenverantwortung“ hatte der Regierende den Hauptstädterinnen noch kurz zuvor in einem in alle Haushalte verteilten Brief eingebläut. In den Shopping Malls am Potsdamer Platz drängelten sich die Konsumjunkies wie in einer Nerzfarm.

Wie sehr vor allem der Kulturszene der Geduldsfaden zu reißen beginnt, demonstrierte die Columbiahalle direkt hinter meiner Wohnung am Südende von Kreuzberg.

Hatte das ehemalige Casino der US-Truppen am Flughafen Tempelhof, heute ein beliebtes Konzerthaus, auf seiner Leuchtwand noch das trotzige „Bis bald. Bleibt gesund!“ prangen, flackert dort heute die neonfarbene Drohung „Hier eröffnet in Kürze ein Getränkemarkt“.

„Mich wundert das alles nicht“, gestand ich einem Freund, mit dem ich Mitte November die heilsgewisse Truppe von Anti-Coronisten mit Friedenstauben und Luftballons aus roten Herzen beobachtete, die die Polizei mit Wasserwerfern vom Reichstag weg in Richtung Brandenburger Tor spritzte.

Von den nervtötenden Maskenverweigerern waren mir dann aber doch die Woodstock-Jünger lieber, die im Sommer in der Neuköllner Hasenheide ihre strahlenden Knicklichter geschwungen hatten. Jetzt sitzen sie mitternachts im dicken Parka auf der Parkbank, lassen die Dealer an sich vorüber flanieren, starren auf ihre blinkenden Smartfons und warten auf Angela Merkels Entwarnung – die nicht kommt.

Streit um neuen documenta-Aufsichtsrat in Kassel

„Es muss geklärt werden, ob wir den Aufsichtsrat überhaupt noch brauchen.“ So ließ sich Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle noch im Frühjahr 2018 vernehmen. Nach dem angeblichen Finanzskandal nach Abschluss der documenta 14 mit Standorten in Kassel und Athen war nicht nur der SPD-Politiker unzufrieden mit der Arbeit des Aufsichtsgremiums der 1955 gegründeten Weltkunstausstellung.

Ganz abschaffen will Geselle das Gremium offenbar nicht mehr. Aber der Weg zu einer effektiven Umgestaltung erweist sich als schwierig. Sein vor kurzem, zusammen mit dem Land Hessen ausgehandelter Entwurf zur Verkleinerung des Gremiums stößt auf Widerstand in der Kasseler Kommunalpolitik. Der Entwurf sieht einen, von 13 auf neun Köpfe reduzierten Aufsichtsrat vor.

Bislang gehören ihm neben Vertretern der Stadt, des Landes und der Kulturstiftung des Bundes auch vier Stadtverordnete an. Nun sollte er nur noch aus drei Mitgliedern der Stadt (Oberbürgermeister plus zwei weitere) und drei Mitgliedern des Landes (Kunstministerin plus zwei weitere) sowie aus drei unabhängigen Sachverständigen bestehen.

Der Bund, der bislang durch zwei Vertreter der Bundeskulturstiftung repräsentiert war, die die documenta finanziell unterstützt, wäre dann nicht mehr repräsentiert gewesen. Hortensia Völckers, die Künstlerische Leiterin der Stiftung und ihr mittlerweile pensionierter Vorstands-Kollege Alexander Farenholtz hatten das Gremium 2018 wegen der Art und Weise, mit der OB Geselle den Streit um die Finanzlücke der documenta 14 eskaliert hatte, verlassen.

Oberbürgermeister Geselle beruft sich bei seinem Entwurf auf den „Public Corporate Governance Kodex“ (PCGK) des Landes Hessen, an dessen Regelungen sich der documenta-Gesellschaftsvertrag anlehne. Der Kodex stelle für das Land Regeln und Handlungsempfehlungen für die Steuerung, Leitung und Überwachung von Unternehmen dar, an denen es beteiligt sei. Konkrete Vorgaben für die Größe und personelle Zusammensetzung der Gremien gibt der Kodex freilich nicht her.

Unwillen hatte unter Beobachtern die Tatsache des stromlinienförmig auf den Ob zugeschnittenen Gremiums erregt. Die Kasseler Parlamentarierinnen hatte nicht nur die Tatsache erregt, dass ihre Anzahl in dem neuen Aufsichtsrat dezimiert worden wäre. Was auch die Verankerung der documenta im politischen Raum geschmälert hätte.

Sondern dass die unabhängigen Sachverständigen auf Vorschlag von Beiräten des documenta-Instituts sowie der documenta-Geschäftsführung „aus sachnahen Gebieten mit nationaler Reputation“ gewählt werden sollten. Internationale Reputation kam offenbar nicht in Betracht.

Der Streit um den Aufsichtsrat ist ein weiterer Beleg für die holprigen Versuche zur Neuaufstellung des Komplexes documenta in der nordhessischen Metropole.

Erst kürzlich kippte die Stadtverordnetenversammlung nach Bürgerprotesten den Plan für einen Neubau des künftigen documenta-Instituts am Kasseler Karlsplatz Ein neuer Bauplatz ist noch nicht in Sicht.

Derweil kämpft auch die von dem indonesischen Kuratorenteam Ruangrupa kuratierte 15. Ausgabe der documenta angesichts der Corona-Pandemie mit Problemen. Reisen und Atelierbesuche können kaum stattfinden.

Eine Verschiebung der für Juni 2022 geplanten Schau in das Jahr 2023 schloss documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann dieser Tage in einem Interview aus. Deutete aber eine partielle Verlegung des Kunstgeschehens ins Digitale an.

Ob sich damit die jetzige Finanzplanung für die documenta aufrecht erhalten lässt, die wesentlich auf Einnahmen durch Tickets von vor Ort präsenten Besucher:innen basiert, steht in den Sternen. Um neuerlichen Finanzturbulenzen rechtzeitig vorzubeugen, könnte hier ein neuer Aufsichtsrat seinem Namen einmal gerecht werden.

Aby Warburg und die Stunde Null der Bildwissenschaft

Was bedeutet es, dass ein persischer Künstler aus dem 14. Jahrhundert die geschwungene Linie der chinesischen Bildsprache in seine Landschaftsminiatur übernahm? Und wie kommt es, dass der chinesische Künstler Ai Wei Wei diese Linie in seine kostbare Porzellanskulptur „Prototype for the Wave“aus dem Jahr 2004 integriert?

Warum erinnert die Zeichnung einer indischen „Kurtisane, die sich ihr Haar kämmt“ aus dem 19. Jahrhundert so frappierend an eine Figur von Henri Matisse? Und der Musterentwurf des japanischen Landschaftszeichners Katsushika Hokusai von 1835 an den Barcode der digitalen Warenkultur von heute?

Auf Schritt und Tritt rätselten die Besucher der documenta 12 im Jahre 2007 über solche verblüffenden Parallelen. Wegen der exzentrischen Bildauswahl und diverser Pannen fiel die Schau von Roger Buergel, heute Chef des Zürcher Johann-Jacobs-Museums, und seiner Frau Ruth Noack, damals zwar bei der Kritik durch.

Doch wenn sie etwas belegte, dann: Wie sehr der Kuratoren Idee von der „Migration der Form“ und dem „Flechtwerk politischer Formbeziehungen“ einem großen Vorbild folgte: Dem berühmten „Bilderatlas“ Aby Warburgs.

Es ist dieser ikonische Kunstgriff, der den 1866 in Hamburg geborenen Kunsthistoriker, Spross einer jüdischen Bankiersfamilie, zu einer mythischen Überfigur nicht nur der Kunstgeschichte, sondern der gesamten Kulturwissenschaft hat werden lassen.

So wie dieses Instrument bis heute in der zeitgenössischen Kunstpraxis nachhallt, ist es also weit mehr als eine staubige, archivalische Pflichtübung, wenn in Berlin nun ein mythisch aufgeladenes Projekt europäischer Kunstgeschichte in zwei Berliner Ausstellungen im Haus der Kulturen der Welt (HKW) und der Gemäldegalerie erstmals so vollständig rekonstruiert wird, wie es sein Urheber selbst nie zu Gesicht kam.

Als Kunsthistoriker hatte sich Warburg mit dem Nachleben der Antike in der Renaissance beschäftigt. Die Bildende Kunst war ihm aber kein Selbstzweck. Vielmehr nutzte er sie als Demonstrationsobjekt, um dem auf die Spur zu kommen, was man eine Universalgrammatik kultureller Ausdrucksformen nennen könnte.

„Mnemosyne“ taufte er sie nicht umsonst. Die griechische Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen schien ihm die richtige Metapher für seine Obsession, der Wanderung symbolischer Formen quer durch alle Kulturen und Epochen der Menschheitsgeschichte nachzuspüren.

Das Wort prangte über dem Eingang seiner Villa in Hamburg. Von 1924 bis zu seinem Tod 1929 kombinierte er dort Bilder von Kunstwerken auf dunkel bespannten Tafeln, um diese „Pathosformeln“ freizulegen. Die Kunst betrachtete er gleichsam als Datenbank dieser Formen.

Im schonenden Dämmerlicht der Berliner Gemäldegalerie lassen sich einige von Warburgs Beweisstücke in Augenschein nehmen, die ihm als Vorlage dienten. Die im Schrei verzerrten Gesichter oder die flatternden Faltenwürfe in Andrea Mantegnas 1450 entstandenen Kupferstich der „Grablegung Christi“ waren ihm solche Pathosformeln.

Aber auch, wie verblüffend sich die Nierenformen ähnelten, mit denen sowohl die Etrusker wie die Hethiter ihre Skulpturen verzierten. Die Geschichte der zwei Völker trennt sechs 6 Jahrhunderte.

Das Revolutionäre war nun, dass Warburg nicht die Originale nebeneinander hing, sondern Reproduktionen. Diese kontrastierte er mit Bildern aus dem Alltag: Ausschnitten aus Zeitungen, Reklamebildern, Fotofunden, in denen er das Nachleben der Pathosformeln zu sehen glaubte.

Eine Universalenzyklopädie von 63 Tafeln mit insgesamt 971 Bildern schwebte ihm vor. Zwar gab es schon im Mittelalter Bilderatlanten, die Fürsten damals ordneten ihre Kunstsammlungen ähnlich. Doch erst Warburg begann mit dieser assoziativen Ikonologie.

Wer Warburgs Projekt nicht kennt, tut sich vielleicht etwas schwer,  die Bezüge zwischen den Bildern auf den Tafeln auf Anhieb zu durchschauen. Aber er versteht sofort die Methode des visuellen Vergleichs. Dieses Operierens in visuellen Clusterns stellt eine Art Urknall der Bildwissenschaft und des „Iconic Turn“ dar – dem gefürchteten Umschlagpunkt, wo sich die sprachliche auf die visuelle Information, das Wort auf das Bild, „das Argument auf das Video“ verlagert, wie es der deutsche Kunsthistoriker Gottfried Boehm einmal definierte.

Das Echo dieses Denkens in beweglichen Bildkonstellationen war nicht nur in Werken wie der, in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts erschienenen „Encyclopédie photographique de l’art“des französischen KünstlersAndré Vigneau oder in André Malraux‘ ähnlich bebildertem Essay „Musee Imaginaire von 1947 zu spüren.

Dieses Echo ließe sich auch in einem Werk wie „Album III“ des kanadischen Künstlers Luis Jacob aufspüren, der zu Beginn der Zweitausender Jahre mit Bildern aus diversesten Medien und Kulturen etwa der Maske als Chiffre des Körpers nachgeht. Seinen vorläufigen Höhepunkt findet Warburgs Methode freilich in den Bewegtbild-Plattformen wie Instagram, Youtube und der Meme- Kultur gefunden.

Ob man sich von Google einen „Bilderatlas“ zu einem bestimmten Stichwort ausspucken lässt. Ob Geheimdienstchefin „M“ alias Judy Dench im neuesten James Bond auf einer transparenten Wand mit wie von Zauberhand herbeizitierten Bildern forensische Spuren sichert. Nie schienen Warburgs Vokabeln von den „Bilderfahrzeugen“ und den „Wanderstraßen der Kultur“ zutreffender als heute.

Zugleich wurde Warburgs Bilderatlas aber auch zur Geburtsstunde eines Prinzips, das der Kurator Kirk Varnedoe 1990 in der legendären Ausstellung „High & Low“ im New Yorker Museum of Modern Art gleichsam zum kulturellen Paradigma erhoben hatte: Das hierarchielose Nebeneinander von Moderner Kunst und Trivialkultur.

Besonders frappierend lässt sich das an der Tafel 77 von Warburgs Atlas nachvollziehen. Das Foto einer Münze aus Syrakus, das die Göttin Nike zeigt, hängt da neben einem Bild des „hygienisch unübertroffenen“ Toilettenpapiers „Hausfee“ aus dem Deutschland der 20er Jahre, für das die Göttin Viktoria wirbt.  

Heute sind derlei Assemblagen gängige Praxis, seinerzeit waren sie heftig umstritten. „Für die einen hat Warburg die Kunstgeschichte erfunden, für die anderen hat er sie zerstört. Man hat seine Methode Verrücktheit und Genie genannt“ beschreibt Bill Sherman, der Direktor des Londoner Warburgs Instituts, den Ruf des Privatgelehrten, der nie als regelrechter Wissenschaftler gelehrt hatte.

1933, vier Jahre nach Warburgs Tod gelang es, sämtliche 60000 Bände seiner Bibliothek nach London zu verfrachten. Heute beherbergt das Institut eine Fotosammlung von rund 400000 Bildern. Aus diesem Basislager fischten die Kuratoren Robert Ohrt und Axel Heil die knapp 1000 originalen Bilder Warburgs, um seinen Atlas zu rekonstruieren.

Neben der bestechenden Vorstellung eines humanen Bildgedächtnisses fasziniert an Warburgs Kosmos die Idee, dass sich die ewige Form als unwandelbare Konstante durch die Zeiten zieht. In dem »Universum der Formen«, das er und seine Nachfolger aufriefen, meint man, eine geheimen Wirkmacht der Geschichte zu erkennen.

Doch die Fantasie des Überzeitlichen trügt. Schließlich ist die Form nicht ewig, sondern Resultante sozialer Beziehungen. Ein und dieselbe Linie deuten unterschiedliche Kulturen zudem völlig anders.

In der documenta 12 bewunderten die Besucher beispielsweise den Gesichtsschleier einer Braut aus Tadschikistan aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Feld um den Sehschlitz ist auf das Filigranste mit archaischen Formen, mit Sternen und Rhomben aus kostbarer Seide bestickt. Symbolisiert es das Tor zum Kosmos oder das zur Hölle? Die schönste Form kann manchmal ganz schön grausam sein.

Art Week Berlin 2020: Wie die „Positions Art Fair“ vom Pilotfisch zum Leitmodell avancierte

Kaiserwetter, lange Schlangen vor den Hangars, keine Konkurrenz. Dass die Berliner „Positions Art Fair“ einmal zum Vorzeigemodell werden würde, damit hatten Kristian Jarmuschek und Heinrich Carstens, die Organisatoren der Schau, wohl nicht gerechnet.

Während überall auf der Welt die Kunstmessen abgesagt wurden, avancierte der bisherige Pilotfisch des Berliner Kunstmessegeschehens plötzlich zum Signal des Überlebenswillens einer in den Abwärtssog der globalen Pandemie geratenen Branche.

Der Flickenteppich aus der im April abgesagten „Paper Positions“, der „Foto Basel/Berlin“ und der „Fashion Position“, mit Design aus Berlin, den die beiden Messechefs in zwei Hangars des Tempelhofer Flughafens für die Art Week zusammenschoben hatten, war mehr eine Notgeburt: Ganz ohne messeähnlichen Auflauf sollte die Art Wekk dann doch nicht bleiben.

Mit rund 130 Ausstellern aus 50 Ländern wirkte sie aber plötzlich wie die Kunstmesse, die Berlin schon immer haben wollte, die ihr aber nie wirklich gelang. Vergessen all die verkrampften Versuche der Berliner Kunstmessen-Etablierung vom elitären Art Forum bis zur prätentiösen abc.

Die Verkaufs-„Messe in St. Agnes“, mit der Galerist Johann König schon zum zweiten Mal die ausgefallene Art Basel – auf eigene Kosten – zu kompensieren suchte, ist trotz 800 Objekten doch zu sehr ein solitär zusammengestricktes One-Man-Event, als dass sie die gleiche Ausstrahlung hätte wie die Positions in den alten Flughangars.

Und die Ausstellung „K60“, in der die sieben Berliner Galerien alexander levy, BQ, ChertLüdde, Klemm’s, Kraupa-Tuskany, Plan B und PSM in dem denkmalgeschützten Gebäude einer ehemaligen Eisengießerei in Berlin-Reinickendorf auf 3000 Quadratmetern 23 Künstler*innen zu einer Präsentation von Videoarbeiten, Skulpturen und Mixed Media Installationen eingeladen hatten, firmierte dann doch mehr unter konzeptueller Geheimtipp.

Dass die „Positions“ nun zur „Abbildung aktueller Kunstdiskurse“ beigetragen hätte, wie die Veranstalter etwas vollmundig angekündigt hatten, lässt sich freilich nur schwer behaupten. Dazu konzentrierte sich das Angebot dann doch zu sehr auf Malerei der verkaufsträchtig bunten Art.

Aber auch in diesem Malstrom des Mainstream ließen sich Entdeckungen machen wie die kleine, zerfließende Porträtzeichnung von Altmeister Max Uhlig bei der Berliner Galerie Brusberg oder die wie Wunden aufklaffenden Porträtfotos des jungen Künstlers und Aktivisten Imraan Christian aus Kapstadt bei der Galerie Artco.

Mit den „Academy Positions“, bei denen AbsolventInnen von Kunsthochschulen erstmals präsentieren durften und den auffällig vielen Modelabels, die mit Recycling-Techniken experimentierten, gewannen die Veranstalter diesem scheckigen Jahrmarkt sogar noch eine Art perspektivischen Gemeinnutzen ab.

Im Wesentlichen lebte die Messe freilich von dem Willen der Kunstliebhaber*innen nach der Begegnung, die sich bei den vielen, stillen „Soft Openings“ der Art Week, Biennale inklusive, immer nur wie unter Schalldämpfer vollzog. Dass der ganze, so splendide wie exklusive VIP-Zirkus der Art Week in diesem Jahr fehlte, war erholsam. Ganz ohne Face-to-face-Kontakt macht auch die entschlackteste Art Week keinen Spaß.

Jedenfalls funktionierte die „Positions“ nach dem Prinzip der aus unerledigten Quarantäne-Energien gespeisten Projektion: Trotz Masken, ausgeklügelter Leitwege, Temperaturmessung und strikt eingehaltener Hygieneregeln konnte man auf dem quirligen Parcours in den wunderbar abgewrackten Hallen so tun, als sei alles wie früher – Wiederholung, Fortsetzung, Neuaufnahme dringend erwünscht.

Das Museum reformieren oder ganz neu gründen?

„Tear it down – Reißt es nieder“. Für die bunte, queere Truppe, die sich vor ein paar Wochen vor dem Neubau des Berliner Schlosses alias Humboldt-Forum zum antikolonialistischen Go-In versammelte, war die Sache klar. Dieses Museum soll gar nicht erst eröffnet werden. Eine Pappattrappe des christlichen Kreuzes, das seit kurzem die Kuppel des umstrittenen Baus ziert, landete unter großem Jubel zerbrochen in der Spree.

„De-colonizing“ – die bei solche Aktionen meist intonierte Vokabel der Koalition progressiver Kulturarbeiter:innen fiel an einem milden Frühherbst-Abend Anfang September in der Berliner Urania, einem der letzten Ort der in die Jahre gekommenen „Volksbildung“, nicht.

Was sicher kein Zufall war. Repräsentierte doch das Podium, das dort über „Proteste, Angriffe, Vorwürfe: Wie frei sind unsere Museen?“ diskutierte, eines der zentralen Probleme vieler europäischer Museen – ihre mangelnde Diversität.

Glaubte man den vier ausnehmend klugen, aber eben doch ziemlich weißen Kulturschaffenden lupenrein deutscher Provenienz, steht es um das, unter schweren Beschuss geratene Museum besser als Mensch so denkt. Hermann Parzinger, Chef der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und damit auch des Humboldt-Forums, entsteht mit kritischen Aktionen und Debatten, ein „Druck, der Energie erzeugt“.

Ulrike Lorenz, seit einem Jahr neue Direktorin der Stiftung Weimarer Klassik, sieht den Legitimationsdruck im Gefolge von Epochenbrüchen wie denen um 1918, 1968 oder dem postkolonialen Revival heute, die einmalige Chance, die „Gesellschaft neu reinzuholen“ ins Museum.

Einzig Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD) näherte sich dem Problem, als sie forderte, das Museum müsse die „Einwanderungsgesellschaft“ zur Kenntnis nehmen, die in Deutschland heute längst Realität sei. Ansonsten konnte man bei dem Panel den Eindruck gewinnen, das Museum sichere seine Zukunft, wenn es nur möglichst viele, möglichst natürlich digitale „Angebote für neue Zielgruppen“ macht, wie es Thomas Müller-Bahlke, Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle forderte.  

Das ist natürlich richtig. Schließlich hat das Museum eine gesamtgesellschaftliche Bildungsaufgabe. In Fortschreibung der Tradition ihres berühmten Vorgängers Hilmar Hoffman fand Hartwig dafür die schöne Formulierung von den Museen als „emphatischen Räumen“, die „uns allen“ gehören und – hier war die Dezernentin dann ganz Adornitin – „Erziehung zur Mündigkeit“ betreiben sollten.

Freilich ist das Museum historisch und ideologisch, daran erinnerte dankenswerterweise Ulrike Lorenz, eben auch ein Institut, in dem sich “die bürgerliche Gesellschaft mit sich selbst verständigt“. Und das sieht man den meisten von ihnen auch heute noch an.

Die Sammlungen der meisten ethnologischen Museen sind großenteils koloniales Raubgut. Die Kunstmuseen folgen überwiegend der obsoleten Idee einer linearen Westmoderne. Von ihrem institutionellen Rassismus und Sexismus einmal ganz abgesehen.

Nur damit, den „Methodenkoffer zu erweitern“ (Lorenz) und mit ein paar Workshops für Migrant:innenkinder wie dem fabelhaften „Krokoseum“ in Halle lassen sich diese Strukturprobleme vermutlich nicht reparieren.

„Neue Fragestellungen zuzulassen“, wie es Müller-Bahlcke forderte, ist sicher ein guter Anfang, um das Museum zeitgemäßer zu machen. Aber muss, wer „das „Politische der kuratorischen Praxis“ (Ulrike Lorenz) wirklich zu Ende denkt, dieses Institut letzten Endes nicht radikal umbauen, ja ganz neu gründen?

Das documenta-Institut als Metapher

Auf ihr documenta-Institut werden die Kasseler Bürger wohl noch lange warten müssen. Die Stadtverordnetenversammlung der Stadt beschloss Anfang August 2020, den geplanten Standort auf dem Parkplatz am Karlsplatz in der Nähe des Rathauses wieder aufzugeben.

Rund 7000 Stimmen für ein Bürgerbegehren „Rettet den Karlsplatz“ schreckten die Parlamentarier derart, dass sie ihren erst im Mai gefassten Beschluss wieder kassierten. Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) und documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann sollen nun einen Alternativstandort suchen. So umgehen die Parlamentarier das eigentlich schon für Dezember terminierte Bürgerbegehren.

Schormann und Geselle sollen schon lange mit der jetzigen „documenta-Halle“ am Friedrichsplatz liebäugeln. Die langgestreckte Glashalle ist zwar denkbar ungeeignet, aber ohnehin renovierungsbedürftig. Der häufige Leerstand belastet zudem das documenta-Budget.

Die jüngste Volte einer mehrjährigen Kontroverse offenbart ein Dilemma. Die „documenta-Stadt“ ist stolz auf ihren Ruf als temporäre „Weltkunsthauptstadt“. Mit dem vom Bund mit 12 Millionen, dem Land Hessen und der Stadt Kassel mit je sechs Millionen Euro geförderten Forschungszentrum will sie ihr Renommier- und Markenzeichen polieren. Schon der Streit um den Verbleib von Olu Oguibes Obelisk belegte freilich, wie zögernd sie sich neuen Perspektiven jenseits des Lokalen öffnet.

Ähnlich ist es mit dem documenta-Institut. Mit dem, vergangenen Monat zum Gründungsdirektor des Instituts berufenen, emeritierten Kasseler Soziologieprofessor Heinz Bude (SZ vom 4.8.) setzten die Stadt, die Universität und das Land Hessen auf eine Hauslösung. Hessens ehemaliger Wissenschaftsminister Boris Rhein (CDU) hatte sich seinerzeit zwar ein „Forschungsinstitut von Weltrang“ gewünscht. Internationales Personal kam dafür aber offenbar nicht in Betracht.

Das Institut soll transdisziplinär und innovativ arbeiten. Mit ihrer Idee, es um eine „künstlerische Professur“ zu erweitern, drang documenta-Professorin Nora Sternfeld aber nicht durch. Wie schwer es die Kunst vor Ort im akademischen Kontext hat, zeigt auch der Fall der Kunsthochschule. Sie ist Teil der Kasseler Universität, an der auch das documenta-Institut zum Teil angesiedelt sein soll. „Wir kommen wie Aliens daher“ begründete kürzlich Joel Baumann, Professor für Neue Medien“ entnervt seinen Rückzug vom Amt des Rektors.

Zum Sommersemester 2021 sollen nun drei vom Land Hessen finanzierte Professor*innen für Geistes- und Kulturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften und Architektur, Stadtplanung und Landschaftsplanung an und in dem neuen Institut ihre Arbeit aufnehmen. Ihre Forschungsagenda ist freilich noch nicht erkennbar.

Immerhin hat Hessens derzeitige Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) dem neuen Institut zusätzlich 200.000 Euro für ein Projekt zur „Künstlerischen und Kuratorischen Forschung“ bewilligt.

Trotz dieses Teilerfolgs kehrt die erst 2017 an die Kasseler Kunsthochschule berufene Sternfeld der „documenta-Stadt“ vorzeitig den Rücken. Ab Oktober wird sie als Professorin für Kunstpädagogik an der Hamburger Kunsthochschule (HfBK) für ihre Idee eines „Radikaldemokratischen Museums“ streiten.

Heinz Bude wird Leiter des neuen documenta-Instituts

„Kapitän“, „Intervenierer“, „Geistespersönlichkeit“. Die Lobesvokabeln wollten kein Ende nehmen, mit denen Mitte August eine illustre Runde von Hessens Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) bis Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) den Soziologen Heinz Bude in Kassels Museum Fridericianum bedachten.

Insider wussten es schon länger, aber erst vergangene Woche gaben die documenta und die Universität Kassel bekannt, dass der 1954 geborene Wissenschaftler, dort seit 2000 Professor für Makrosoziologie, „Gründungsdirektor“ des neuen documenta-Instituts werden soll.

Spätestens mit seinem Essay zur „Generation Berlin“ ist Bude zu einem der markantesten Intellektuellen Deutschlands avanciert. Insofern kann sich die Universität glücklich schätzen, solch ein Aushängeschild für die neue Institution gewonnen zu haben. 

Als soeben emeritierter Professor hat Bude die nötige Zeit, kennt das Machtsystem von Politik und Wissenschaft in der Stadt. Wenn die Berufung nicht den Beigeschmack hatte, dass – ähnlich wie bei Berlins Humboldt-Forum – einmal mehr ein älterer weißer Mann die Führung einer innovativ gedachten, neuen Institution übernehmen soll.

Für einen „Fachfremden“ (den man in den letzten Jahre freilich überraschend häufig in Kunstmuseen treffen konnte) war Bude bei seiner Vorstellung um schwungvolle Analysen und Visionen allerdings nicht verlegen.

Die „einmalige Chance“ des Instituts mit seinen drei, in Kürze zu besetzenden Professuren sieht er darin, „dass es die documenta als ein Modell der Ausstellung von Gegenwartskunst versteht und damit das weltgesellschaftliche Phänomen der Biennalisierung des Kunstfelds in den Griff bekommt“.

Einen weiteren Lichtblick für die, im Vorfeld umstrittene Struktur des Instituts, eröffnete Ministerin Dorn. Neben den je 6 Millionen Euro, mit der die Stadt Kassel und das Land Hessen und den zwölf Millionen, mit denen der Bund die Errichtung des Institut finanzieren, stellt Dorn zusätzlich 200000 Euro für „künstlerische Forschung“ zur Verfügung.

Für diesen Ansatz hatte sich die scheidende documenta-Professorin Nora Sternfeld in einer Denkschrift unter dem Titel „Eine Frage der Haltung“ im November 2018 stark gemacht. Unklar blieb, warum nicht eigentlich ihr die Leitung dieses Instituts übertragen wurde. Schließlich leitete sie seit ihrer Berufung im Frühjahr 2017 den organisatorischen Vorläufer dieses Instituts.

An einen Skandal grenzte es freilich, dass bei dem hochoffiziellen Pressetermin die Frage nach der NS-Belastung der documenta-Gründerväter, die spätestens im letzten Jahr bekannt wurde und seitdem kontrovers diskutiert worden war, nicht einmal erwähnt wurde.

Zumal documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann selbst in diversen Statements in den letzten Monaten angedeutet hatte, diese Frage könne Teil der Aufgabe des Instituts sein.

Als Wissenschaftler, der 1986 mit einer Arbeit zur Wirkungsgeschichte der Flakhelfergeneration an der FU Berlin habilitiert worden war, dürfte Bude einen Blick für die Verstrickungen dieser Gründergeneration haben. Von denen offensichtlich sogar noch einzelne Vertreter leben.

Unerklärlich deshalb, dass auch Bude die Frage, was die NS-Belastung von Männern wie Werner Haftmann für die Forschungsagenda des Instituts bedeuten könnte, nicht einmal anschnitt. Die Lösung des „Rätsels der Zeitgenossenschaft“ ist Bude vordringlicher. Um diesem Rätsel auf den Grund zu gehen, soll das Institut auch Gegenwartskunst präsentieren.

Mit „Herkulesaufgabe“ (Kassels Universitätspräsident Reiner Finkeldey) ist Budes künftige Arbeit also nicht nur von diesem neuralgischen Punkt her zutreffend beschrieben. Dazu kommt die Frage nach der offiziellen Verortung des Instituts. Zunächst soll es zur documenta gGmbh gehören. Irgendwann dann aber zur Universität.

Und in Kassel hat eine neue Bürgerinitiative die Frage neu aufgeworfen, ob tatsächlich an dessen zentralem Karlsplatz das neue Gebäude entstehen soll, dass die Stadtverordnetenversammlung beschlossen hat.

Andere sind der Meinung, das ehemalige Sportartikel-Kaufhaus an Kassels Treppenstraße, kurz vor dem Friedrichsplatz könnte ein Alternativ-Standort sein. Das leerstehende Warenhaus hat Ruangrupa, die neue künstlerische Leitung, kürzlich zum „Hauptquartier“ der von ihr kuratierten „d 15“ erkoren.

In einem frühen Aufsatz hatte der am Beispiel von Hans Ulrich Obrists berühmten Gesprächen mit den verrücktesten Initiativen und Akteuren aus Kunst, Wissenschaft, Mode und Politik den „Kurator als Meta-Künstler“ beschrieben, dem es nicht mehr um die Position des Museums, sondern die „Tätigkeit des Versammelns“ gehe. Als „Allesfresser“ jeden verfügbaren Wissens sei er der „Inszenierer einer heterogenen Welt“.  

Fast scheint es, als habe Bude damit seinen neuen Job beschrieben. So wie in er dem neuen documenta-Institut eine explosive Mischung aus (kunst-)historischen, kultur- und standortpolitischen sowie wissenschaftlichen Interessen austarieren soll.

Sollte ihm das gelingen, könnte der „Gründungsdirektor“ nach dessen projektierten zwei, drei Jahren womöglich einer Frau den Weg an die Spitze des Instituts ebnen. Vielleicht sogar einer außerhalb von Europa. So viel Liebe zur Weltkunst sollte die documenta in Kassel – trotz des Streits um den Obelisken von Olu Oguibe – doch langsam entwickelt haben.