Erdogan will der Türkei ein neues Gesicht geben. So oder ähnlich lauteten in diesen Tagen die Schlagzeilen, mit denen die Medien die Ergebnisse des Verfassungsreferendums vom vergangenen Wochenende in der Türkei kommentierten. Das klingt, als ob am Bosporus eine Schönheitsoperation bevorstünde. Doch die Verfassungsänderungen, die sich die AKP von Premierminister Recep Tayyip Erdogan gerade vom türkischen Volk hat absegnen lassen, sind weit mehr als bloß eine kosmetische Retusche am lädierten Antlitz des Zwei-Hemisphären-Landes.
Dass in Zukunft Militärs vor Zivilgerichten angeklagt werden können, ist eine kleine Revolution in einem Land, in dem die Streitkräfte nicht nur einen nationalen Mythos darstellen, sondern bislang einen, den klassischen Staatssäulen Legislative, Exekutive und Judikative gleichberechtigten Verfassungsrang besaßen.
Weniger schön ist eine andere Bestimmung. Dass nämlich der (in Zukunft direkt gewählte) Staatspräsident weitgehend allein über die Besetzung des Verfassungsgerichts entscheiden kann. Und dieser Gral des Kemalismus, stand, obgleich ein AKP-Sympathisant an seiner Spitze steht, der islamischen Regierungspartei durchaus feindselig gegenüber. Ihm kommt in dem Kulturkampf zwischen Säkularen und Frommen, der hinter dem politischen Wettstreit steht, eine entscheidende Rolle zu. Auf absehbare Zeit wird der türkische Staatspräsident ein AKP-Mann sein. Denn Recep Tayyip Erdogan werden Ambitionen nachgesagt, die Nachfolge des derzeitigen Präsidenten Abdullah Gül anzutreten, wenn dessen siebenjährige Amtsperiode im Jahr 2014 endet.
Erdogan hatte sich im vergangenen Jahr bereits dafür ausgeprochen, die Türkei zu einer Präsidialdemokratie nach amerikanischem Muster umzubauen. Vor diesem Hintergrund nehmen sich Verfassungsänderungen wie die, dass in Zukunft auch Individualklagen vor dem Verfassungsgericht möglich sind und nicht mehr nur Organklagen, wie Beruhigungspillen aus. Sie sollen die nackte Tatsache verschleiern oder versüßen, dass sich der politische Islam in Gestalt der AKP anschickt, die letzte von Kemalisten dominierte Machtbastion zu erobern. Und noch weiß niemand so genau, welche politische Agenda er mit ihrer Hilfe durchsetzen will.
Der entscheidende Schönheitsfehler des Referendums ist aber, dass es sich hier um eine „Reform von oben“ handelt. Das Referendum ging von der Regierung aus. Keine breite Volksbewegung hat es erzwungen. Die liberale Verfassung, die Erdogan nach seinem letzten, überwältigenden Wahlsieg von dem progressiven Verfassungsrechtler Ergun Özbudun ausarbeiten ließ, verschwand in der Schublade. Keiner hat je über sie diskutiert. Aber es ist schwer vorstellbar, dass ein Land, dass so lange im Prokrustesbett des Kemalismus steckte, ein neues, demokratisches Selbstbewusstsein auf dem Wege des Dekrets entwickeln könnte. Dazu bedarf es eines großen, nationalen Diskurses, der alle Teile der Gesellschaft einbezieht, sie geistig durchdringt. Andernfalls wird die neue Verfassung auch wieder nur als eine angesehen werden, die sich eben die neuen Machthaber zimmern ließen.
Es wird also entscheidend darauf ankommen, ob die oppositionelle CHP unter ihrem neuen Führer Kemal Kiliçdaroglu ihre Fundamentalopposition gegen die AKP aufgibt. Dazu hat sie nach den 58 Prozent Zustimmung zu dem Referendum auch jeden Anlass. Sie zeigen, dass die Türken eine Veränderung in Richtung Demokratie wollen. Nur dann wird die CHP in der Lage sein, die neue Komplettverfassung, die nach den Worten Erdogans auf die jetzige, in 26 Artikeln geänderte Version der Putsch-Verfassung von 1982 folgen soll, in dem säkularen, liberalen und republikanischem Geist zu beeinflussen, der für eine Verfassung notwendig ist, die das Adjektiv demokratisch verdient.
Eine noch so schöne neue Verfassung kann aber auf lange Sicht nicht die kulturelle Ablösung von der Schimäre der einheitlichen türkischen Nation ersetzen. Die Idee der Türkei als multikulturelles Ensembles bedarf eines imaginativen Vor- beziehungsweise Urbildes. In der Literatur und der Bildenden Kunst werden die Versatzstücke dazu seit Jahren zusammengetragen. Künstler und Schriftsteller erinnern an die verleugnete osmanische Geschichte, an die arabischen Wurzeln, die unterdrückten Ethnien des Landes: Armenier, Griechen, Tscherkessen. Sie zeichnen ein Bild von der kulturellen und sozialen Vielfalt, die schon jetzt in der realen Türkei zu finden ist. Wer all das eines Tages in die „große Erzählung“ von der neuen Türkei zu integrieren vermag, die an die Stelle der Atatürkschen Homogenitäts-Vision tritt, wird der eigentliche Sieger der jetzigen politischen Umwälzungsprozesse sein. Hoffen wir, dass es jemand ist, der aus der Zivilgesellschaft kommt.