(1.Wer bin ich und was ist mein Bezug zur Politischen Bildung?)
(1) Mein Name ist Ingo Arend, ich arbeite als Kulturjournalist und Essayist für bildende Kunst, Literatur und Kulturpolitik. Auf meinem Blog Ästhetik und Demokratie befasse ich mich mit dem Zusammenhang von Kunst, Ästhetik und Politik. Mein Bezug zur politischen Bildung vermittelt sich über Kritik an Kunstwerken und über die Frage nach der politischen Wirkung von Kunst. Ich versuche heute auf den Beitrag von Kunst zur politischen Bildung einzugehen, in dem ich frage, wie Ästhetik unsere Wahrnehmung ausbildet.
(2) Einen Zugang zur Politischen Kunst hat Pablo Picassos einmal so beschrieben: „Nein, die Malerei ist nicht dazu da, die Appartements zu schmücken. Sie ist eine Waffe zu Angriff und Verteidigung gegen den Feind.“ Auf Pablo Picassos Satz beruft sich gern, wer für eine gesellschaftlich bewusste Haltung der Kunst plädiert. Als ewiges Sinnbild dafür dient Picassos im Mai und Juni 1937 als unmittelbare Reaktion auf die Zerstörung der spanischen Stadt durch den Luftangriff der deutschen Legion Condor am 25. April 1937 entstandenes Bild „Guernica“.
(3) Als Mahnung vor den Verheerungen des Krieges als Anklage gegen die Brutalität des Nazi-Regimes hängt eine Kopie des berühmten Bildes heute im Vorraum zum Sitzungssaal des UN-Sicherheitsrats in New York City. Neben Jacques-Louis Davids berühmtem Bild „Der Tod des Marat“ von 1793, in dem der französische Maler den in der Badewanne ermordeten Jakobiner zum politischen Märtyrer stilisiert, ist Picassos Gemälde einer der Urknalle, eine Ikone der Politischen Kunst.
(4) Die Traditionslinie der Kunst, die sich explizit als politische Aufklärung, im Sinne von positiver Propaganda, versteht, reicht von John Heartfields Fotomontage „Der Sinn des Hitlergrußes“ von 1932 über Klaus Staecks „Deutsche Arbeiter, die SPD will Euch Eure Villen im Tessin wegnehmen“, von 1972, von Jörg Immendorffs Bild „Wo stehst Du mit Deiner Kunst, Kollege?“ von 1973 bis zu Banksys Graffito im Flüchtlingscamp von Calais von 2016, das ein weinendes, offensichtlich von der Figur Cosette aus dem Musical „Les Misérables“ inspiriertem Mädchen zeigt, das in einer Tränengaswolke sitzt. Was sie ästhetisch vereint, ist, dass sie den politischen Zusammenhang, den sie ins allgemeine Bewusstsein bringen wollen, mit bildlichen Mitteln aufrufen.
(2. Aus ihrem Kontext: Was ist für Sie die dringlichste Aufgabe der Politischen Bildung?)
(5) Das alles sind recht klassische Beispiele politischer Bildung über das Bild. Sie belegen aber immer noch: Es kann keine Politische Bildung geben, wenn sie nicht auch ästhetisch ist. Ohne Visualisierung keine politische Bewusstseinsbildung. Bei dieser politischen Bildung geht es aber nicht nur um Plakate und Historienmalerei. Es geht auch um ästhetische Erziehung. Also die Aufwertung von Kunst und Musik als schulischen Fächern. Die Grenze zur kulturellen Bildung wird hier zwar fließend. Die Frage ist nur: Wie ist Ästhetik dabei einzusetzen, auf was soll sie abzielen?
(6) Politische Bildung muss über politische Sachverhalte aufklären. Sie müsste es sich aber auch ganz allgemein dringlich zum Ziel setzen, Wahrnehmungsfähigkeiten zu stärken, Kreativität, Sensibilität und Urteilskraft entwickeln zu helfen. Es geht um eine Seh- und Zeichenschule, darum, die Sehkultur zu stärken. In digitalen Zeiten ist die Fähigkeit, Bilder kritisch einordnen, lesen, decodieren zu können, zur politischen Überlebensnotwendigkeit geworden. Oscar Negt spricht nicht umsonst vom „Augenmaß“ als einer politischen Fähigkeit.
(7) Was kann Kunst dabei leisten? Sie ist an sich, also vollkommen unabhängig von einer politischen Aussage, die sie möglicherweise beabsichtigt, ein Mittel der politischen Bewusstseinsbildung. Denn: Die ästhetische Rezeption allein, das was wir Kunstbetrachtung nennen, kann schon eine Erschütterung eingefahrener Seh- und Denkweisen bewirken, die nötig ist, damit Suchbewegungen stattfinden: bei politischen, aber auch bei anderen Themen. Deswegen setzte die Schule des „Neuen Sehens“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts um den ungarischen Künstler László Moholy-Nagy auf extreme Perspektiven.
(8) Gegen die Bauchnabelperspektive der konventionellen, auch politisch inspirierten Fotografie, setzten sie die Vogelperspektive. „Fotografiert von allen Blickwinkeln aus, nicht nur vom Bauchnabel, bis alle diese Blickwinkel anerkannt sind“. Die Forderung von Alexander Rodtschenko darf man nicht nur als ästhetische Maxime gegen die klassische Fotografie verstehen.
(3. Auf welche Veränderungen in der Welt in der sich politische Bildung abspielt müssen wir reagieren?)
(9) In den aktuellen Zeiten des weltweit entfesselten Neokapitalismus, dem Wiederaufstieg des tot geglaubten Völkischen und Autoritären liegt es nahe, das Verständnis von Kunst wieder aufzugreifen, das Joseph Beuys in Andres Veiels jüngstem Biopic sagt: „Ich glaube Kunst ist die einzige politische Kraft, die einzige revolutionäre Kraft, die einzige evolutionäre Kraft, die einzige Kraft, die die Menschheit von aller Repression befreien kann. Ich sage nicht, dass sie das bereits realisiert hat, aber weil sie es nicht realisiert hat, muss sie als Waffe entwickelt werden“.
(10) Eine Beleg dafür ist das wieder einmal grassierende Bedürfnis, mit spektakulären Kunstaktionen direkt in die (politische) Realität zu intervenieren. Die klassische Antwort vieler Kunstliebhaber auf die Frage: „Was kann die Kunst?“ reicht zum Beispiel Philipp Ruch und seinem „Zentrums für politische Schönheit“ nicht. Im November 2014 wurden die weißen Kreuze, die in Berlin das Gedenken an die Mauertoten wachhalten, „entführt“, um an das tödliche Schicksal der Flüchtlinge an den EU-Grenzen zu erinnern. Sein Signal: Kunst muss praktisch werden, sie muss Menschenleben retten. Sie muss zur Waffe gegen die falsche Flüchtlingspolitik werden.
(11) Eine Steigung dieser Sichtweise ist die aktuelle Documenta, die neben Kassel auch in Athen stadtfindet. Spektakuläre Arbeiten wie Marta Minujíns „Parthenon of Books“ oder der Obelisk des nigerianischen Künstlers Olu Oguibe „Das Fremdlinge und Flüchtlinge Monument“ auf dem Kasseler Karlsplatz mit dem Zitat aus dem Matthäus-Evangelium „Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt“ in Deutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch belegen, wie sehr die Erschütterungen unserer Tage die Kunst motivieren relevanter zu werden, einzugreifen.
(12) Von Christoph Schlingensief über Rimini Protokoll bis zu Pussy Riot. Nichts gegen Politische Kunst im engeren Sinne, nichts gegen Propagandakunst. Nichts gegen Interventionsstrategien. Nichts gegen Dokumentarismen oder Realismus. Sie sind ein ganz legitimer Bestandteil des Arsenals der Künste. Sie allein garantieren aber kein öffentliches Umdenken.
(4.) Was sind gelingende Geschichten politischer Bildung? oder Exemplarisch: Was ist eine gelingende Geschichte?
(13) Bleiben wir bei der Documenta. Im Grunde ist sie eine der ersten erfolgreichen Aktionen politischer Bildung in den frühen Jahren der Bundesrepublik. Als am 15. Juli 1955 im Rahmen der Bundesgartenschau der Kasseler Kunstprofessor Arnold Bode die erste Documenta eröffnete, war das natürlich der Versuch, das kulturelle Leben in Deutschland nach dem Krieg wieder aufzunehmen.
(14) Mit der Schau verband sich aber auch eine explizit politische Idee: Die Versöhnung Deutschlands mit der Moderne und eine Art Wiedergutmachung gegenüber der „Entarteten Kunst“. Daher stand die abstrakte Moderne im Mittelpunkt der Ausstellung. Es wurden keine Bilder gezeigt, die die Gräueltaten des NS-Systems aufzeigten. Vielmehr sollte der Nationalsozialismus durch die Konfrontation mit einer Kunst „aufgearbeitet“ werden, die eine andere Perspektive und eine andere Funktion des Bildes propagierte als das Gegenständliche und Monumentale der völkischen und faschistischen Kunst.
(15) Das Bild der Besucher, die in den ausgebrannten Ruinen des Fridericianum vor den Bildern von Max Beckmann, Hans Hartung oder Fritz Winter standen, wurde zum Symbol dieser ästhetisch induzierten Selbstreflexion, der Selbstaufklärung und dem Bekenntnis zur westlichen Moderne …
(16) Ganz ähnlich ging vor wenigen Monaten das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) vor: Wenige Tage nach Präsident Trumps Einreisebann zeigte eines der wichtigsten Kunstmuseen der Welt Kunstwerke aus genau den sieben Ländern, für die das umstrittene Dekret galt.
(5. Welchen Anteil können Sie zur Lösung dieser Herausforderungen beitragen?)
(17) Mein Beitrag als Kritiker kann es sein, auf das Lernverhältnis von Ästhetik und Demokratie hinzuweisen. Kunst ist politisch, weil sie die symbolische Gegenwart mög¬licher Welten aufruft. Kunst besitzt, was der Politik so oft fehlt: Einbildungskraft. Dabei kommt es nicht so sehr auf den konkreten Inhalt an, den Kunst vermittelt, sondern um die Erkenntnis, dass sie eine andere Welt konstruieren kann.
(18) Wenn Politische Bildung zur Entwicklung dieser Fähigkeiten beitragen könnte: Zum Entwerfen und zum kritischen Sehen, wäre schon viel gewonnen. Aber nur, wer Kunst hautnah erleben kann, beginnt auch, anders zu denken. Damit wären wir wieder bei Hilmar Hoffmann. Sein Motto „Kultur für alle“ müsste heute als „Kritische Wahrnehmung für alle“ neu buchstabiert werden.
(19) Wie es der deutsche Fotokünstler Wolfgang Tillmans ausgedrückt hat: „Es ist alles eine Frage des Blicks, des offenen, angstfreien Blicks“. Tillmans hat im vergangenen Jahr durch seine Pro-EU-Plakat-Kampagne „No man is an island. No Country by itself“ Aufsehen erregt. Wenn man so will, ein Leckerbissen der Politischen Bildung. Näher kommt er seinem eigenen Motto aber vielleicht in dem Bild „Weak Signal“ von 2014. Von weitem scheinbar ein Schwarzweiß-Bild erweist sich das Digitalfoto aus der Nähe unvermutet als intensiv farbiges Bild. Hier lernt man, im Offensichtlichen Ungesehenes sichtbar zu machen.
(20) Wahrnehmungssouveränität als Grundbedingung von Demokratie und demokratischem Handeln, Befreiung zum souveränen Sehen – in diesem Verständnis ließe sich dann vielleicht tatsächlich mit Ai Weiwei sagen: „Die Revolution ist nicht künstlerisch, aber die Kunst kann revolutionär sein.“
Vortrag, gehalten auf der Konferenz: „Bildung für die Demokratie – Geschichte und Zukunft der politischen Bildung“ am 15. Juni 2017 in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin.