Das Ende der documenta? Bis vor kurzem schien eine solche Perspektive undenkbar. Die 1955 gegründete Weltkunstschau im nordhessischen Kassel zählt zu den festen Größen im Kunstbetrieb wie die Pyramiden in Ägypten oder die Oscar-Gala. Nun sieht sie sich einer diskursiven Zangenbewegung gegenüber, die erstmals ihre Existenz gefährden könnte.
Im Februar 2019 war die überraschende Berufung des indonesischen Kollektivs ruangrupa zu den Kurator:innen der 15. Ausgabe, die am 18. Juni eröffnen soll, noch wohlwollend aufgenommen worden. Der ganz große Ärger begann in diesem Januar, als ein anonymer Beitrag in dem Blog „Bündnis gegen Antisemitismus Kassel“ der „documenta fifteen“ (d15), wie sich die Schau diesmal nennt, eben diesen vorwarf.
Der Vorwurf gegen die als documenta-Teilnehmer eingeladene palästinensische Gruppe „The Question of Funding“, die in einem Kulturzentrum in Ramallah arbeitet, das nach dem arabischen Nationalisten Khalil al-Sakakini (1878-1953) benannt ist, erwiesen sich zwar bald als haltlos.
Das hinderte die deutsche Presse von FAZ bis Zeit nicht daran, den tendenziösen Text eines unbekannten Antideutschen, gehörig hoch zu jazzen. Diese Fraktion der radikalen Linken identifiziert jede noch so marginale Israel-Kritik als Wiederkehr des eliminatorischen Antisemitismus, der den Holocaust möglich gemacht habe.
Wider besseres Wissen malte die deutsche Publizistik das Schreckgespenst einer antisemitischen Verschwörung in Kassel an die Wand. Plötzlich gerieten nicht nur Teile des Künstlerischen Teams der documenta wegen angeblich israelkritischer Haltung unter Antisemitismus-Verdacht, sondern sogar die neue deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth.
Die linke Grünen-Politikerin hatte im Mai 2019 die vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Resolution gegen die Bewegung „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS) abgelehnt, die das Existenzrecht Israels in Frage stellt und zum wirtschaftlichen und kulturellen Boykott des Staates aufruft. Ihre Begründung: nicht alle BDS-Unterstützer seien automatisch antisemitisch.
Der Zentralrat der Juden in Deutschland schaltete sich ein, reklamierte Mitsprache bei der Auswahl der Diskutanten einer eilends anberaumten, dann wieder abgesagten Podiumsdiskussion der documenta zum Thema. Ihr Titel „Wir müssen reden!“.
Den Gipfel erreichte die vornehmlich von der Springer-Zeitung „Welt“ angeheizte Kampagne, als sie die d 15 als Beleg dafür nannte, wie die woke Kunstwelt überhaupt systematisch israelische Künstler marginalisiere.
Noch jede documenta generiert im Vorfeld erhebliches Erregungspotential. Mal ist es ein erratisch agierender Kurator, mal sein abstruses Konzept. Daran kann es diesmal nicht gelegen haben, dass es plötzlich schien, die documenta sei ausgerechnet von der liberalen Öffentlichkeit zum Abschuss freigegeben.
Auch nicht an der bis dahin ziemlich vagen „Lumbung“-Idee von ruangrupa. Die Reisscheune, die sie mit dem Wort aufrufen, steht als Metapher für eine Ökonomie gemeinschaftlicher Ernte und Teilens. Wie die fröhliche Truppe das in Kunst übersetzen würde, ist selbst wohlmeinenden Beobachtern bis heute schleierhaft.
In dem documenta-Streit verschlingen sich diverse Fäden der deutschen Debattenkultur zu einem Gordischen Knoten. Das Ritualhafte der Vorwürfe erinnerte an die – ihrerseits stark umstrittene – Kritik des amerikanischen Historikers A. Dirk Moses an den „Hohepriestern des Katechismus der Deutschen“, dessen fünfte Überzeugung da laute: „Antizionismus ist Antisemitismus“.
Die Bemerkung der FAZ zu Beginn des Streits, bei dem „überwiegend aus Angehörigen des Islam“ bestehenden Kollektiv dürfte „ein Bewusstsein für jüdische Belange eher schwach entwickelt sein“, offenbarte dagegen einen rassistischen Unterton.
Manifest wurde der plötzlich in den Slogans „Freiheit statt Islam! Keine Kompromisse mit der Barbarei! Islam konsequent bekämpfen!“, mit denen Unbekannte im April das „ruruHaus“, das Hauptquartier der Kurator:innen im Kasseler Stadtzentrum beklebten. Wenig später legten andere mit den Schmierereien „187“ und dem Namen „Peralta“ nach – Hinweise auf die Todesstrafe in Kalifornien und eine spanische Rechtsextremistin.
Die an die McCarthy-Ära erinnernde Unduldsamkeit, mit der ein Teil der Öffentlichkeit (die sonst für absolute Kunstfreiheit eintritt) ein spezifisch deutsches Dispositiv wie die (international umstrittene) BDS-Resolution militant zum Kriterium für akzeptable Kunst erhebt, muss Künstler:innen des globalen Südens wie intellektueller Rassismus vorkommen.
Und nur wenige Jahre nach dem Mord an dem Kasseler Kiosk-Besitzer Halit Yozgat, dem CDU-Politiker Walter Lübcke, dem ehemaligen Kasseler Regierungspräsidenten, sowie den tödlichen Anschlägen im hessischen Hanau vom Februar 2020 steht plötzlich auch wieder die Gefahr eines mörderischen Rassismus im Raum – diesmal gegen Künstler:innen.
Spätestens an diesem Punkt avancierte die documenta zum Punching-Ball eines Stellvertreterkrieges, in dem sich Postkolonialismus, Erinnerungspolitik und der Links-Rechts-Kampf um intellektuelle Deutungshegemonie überkreuzten.
In diesem Fight agiert ruangrupa noch immer reichlich unbeholfen. Einerseits setzt das Kollektiv ausdrücklich auf eine aktivistische, gesellschaftskritisch motivierte Kunst. Andererseits wies sie Kritik an ihrem Konzept und den Künstler:innen-Einladungen mit dem Hinweis auf die Kunstfreiheit zurück.
Zudem verzichtete die Gruppe darauf, die in den letzten drei Jahren ans Tageslicht beförderte Nazi-Vergangenheit der documenta in ihrer Schau zu thematisieren.
Mit der Entdeckung der NSDAP- und SA-Mitgliedschaft von Werner Haftmann, neben Arnold Bode einer ihrer legendären Gründerväter, ist der Mythos der documenta als kultureller Neuanfang nach 1945 geplatzt, das Symbol des besseren Deutschlands zeigt tiefe Risse.
Den Anstoß gaben Wissenschaftler:innen von außen, nicht etwa Institutionen wie das documenta-Archiv. Das Deutsche Historische Museum in Berlin präsentierte im vergangenen Sommer die Fakten erstmals einer größeren Öffentlichkeit. Solange die documenta selbst aber ihre Geschichte nicht aufarbeiten will, läuft sie Gefahr, darin unterzugehen.