Zwischen Schmerz und Begehren: Semiha Berksoy, der Kunst- und Operndiva und ersten „Staatskünstlerin“ in der Türkei, die 2004 mit 94 Jahren verstarb, gilt eine Retrospektive im Hamburger Bahnhof in Berlin

„Ich bin ein Gesamtkunstwerk, eine Synthese aus allen Kunstformen“. So ungebrochen, wie Semiha Berksoy 2003 den Kurator Hans Ulrich Obrist in einem Gespräch beschied, würde sich heute kaum ein:e Künstler:in mehr mit einer Formel beschreiben, die nach Genieästhetik und Selbstüberschätzung riecht.

Doch die türkische Operndiva, die 1998 als erste Frau ihrer Heimat mit dem Titel „Staatskünstlerin“ ausgezeichnet wurde, war kein Mensch von übertriebener Bescheidenheit. „Ich war schon immer ein Star“ hämmerte sie ein Jahr vor ihrem Tod 2004 ihrem illustren Gesprächspartner ein.

Misst man das Werk der Ausnahmekünstlerin an der „Tendenz zur Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität“, die der Philosoph Odo Marquard als Kriterium für Richard Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk aufstellte, kam sie der Idee jedoch ziemlich nahe.

Nachvollziehen lässt sich das in der großen Retrospektive in Berlins Hamburger Bahnhof. Zum ersten Mal breiten die Kuratoren Sam Bardouil und Till Fellrath, die Direktoren des Hauses, in diesem Umfang das Werk einer Grenzgängerin zwischen Musik und Bildender Kunst und einer solitären Pionierin weiblichen Kunstschaffens aus.

In der Türkei genießt die Diva Kultstatus wie sonst nur die Popdiva Sezen Aksu oder der schwule Schlagerstar Zeki Müren. In Scharen pilgerte die Istanbuler Kunstszene zur Eröffnung an die Spree und huldigte der Ikone mit Instagram-Kaskaden.

Aufgewachsen in einem multikulturellen Umfeld, ihr Vater war der Dichter Ziya Cenap Bey, die Mutter Fatma Saime Hanım Malerin, standen die Sterne günstig für den Weg der 1910 in Istanbuls Stadtteil Çengelköy geborenen Semiha in die Kunst. Schon im Kindergarten soll sich das junge Mädchen als Opernsängerin versucht haben.

Nach dem Studium der Malerei und Keramik trat es im Istanbuler Stadttheater in einer Gogol-Inszenierung auf. Muhsin Ertuğrul, sein Leiter, war von der Debütantin so begeistert, dass er sie 1931 in „Die Straßen von Istanbul“, dem ersten Tonfilm der Türkei, auftreten ließ.

Auf sie aufmerksam geworden, schien die lebhafte, selbstbewusste junge Dame dem Staatsgründer und Kulturrevolutionär Atatürk prädestiniert als Protagonistin seiner Idee einer modernen türkischen Frau wie des Konzepts, die türkische Kultur europäisch auszurichten.

1934 spielte sie beim Staatsbesuch des Schahs von Persien in Ankara die Hauptrolle in der ersten, von Atatürk in Auftrag gegebenen türkischen Oper „Özsoy“ die Hauptrolle.

Mit einem Staatsstipendium durfte sie später an der Musikhochschule Berlin studieren und schloss dort 1939 ihr Studium ab. Obwohl sie nur ein paar Jahre blieb, war die Stadt prägend für Berksoy.

Es erinnert beklemmend an die xenophobe Stimmung heute in Deutschland, wenn man in den Archivstücken der Schau liest, wie die Hitlerjugend damals gegen die erste türkische Primadonna in einer Aufführung in Europa Front machte. Diese Pionierrolle setzte sie zwei Jahre später mit ihrer Rolle in „Tosca“, der ersten Opernproduktion der Türkei, fort.

„Singing in Full Colors“ – mit dem Titel der Schau spielen die Kuratoren auf Berksoys Multitalent als Sängerin, Performerin und Malerin an. Mit acht monumentalen Kulissen, auf denen sich die Diva in den Hauptrollen von Opern wie „Ariadne auf Naxos“, „Salome“ und „Tosca“ darstellte, verwandeln sie den Museumsraum zu der Bühne, auf der Berksoy ihre Opern wie ihr Leben aufführte.

Was diese Arbeiten mit den, parallel zu dem szenischen Parcours gehängten Werken aus ihrer Zeit als Malerin ab 1972 verbindet, als sie als Sängerin in Rente ging, ist der naive, hochexpressive, emotionale Stil.

Ihr mit rotem Bleistift gestricheltes Selbstporträt von 1928 war noch realistisch-kokett wie für ein Modemagazin. In dem „Nude“ betitelten aus dem Jahr 1996 wird sie zu einer kubistischen Fratze, in seiner groben Abstraktion, nahe an Graffiti und Comic.

Berksoy lebte ein Leben im Austausch mit den Seelen ihrer Lieb(schaft)en, unter ihnen auch der kommunistische Dichter Nazim Hikmet. Regelmäßig besuchte sie ihn im Gefängnis besuchte und porträtierte ihn obsessiv.

Gleich zu Beginn empfängt die Besucher das Bild „My Mother the Painter Fatma Saime“ von 1965, das diesen Sommer auch in Adriano Pedrosas „Outsider“-Biennale in Venedig prangte. Der Tod der Mutter 1918 prägte die achtjährige Semiha nachhaltig und sorgte für den Grundton zwischen Schmerz und Begehren in ihren Werken.

Fand die türkische Gegenwartskunst in derselben Zeit zu einem gesellschaftskritischen Mixed-Media-Konzeptualismus, blieb Berksoy ihrer auf das Individuum und den Körper konzentrierten Malerei treu, irgendwo zwischen Abstraktem Expressionismus und Art Brut: eine in grotesken Formen wie Magma aus dem Inneren hervorsprudelnde Emotion.

Mit den Worten: „Es gibt etwas, das meine Seele antreibt, etwas, das in mir zu einer brennenden Leidenschaft wird, und das ist die Liebe zur Kunst“, hatte sie ihrem Vater einst ihren Berufswunsch begründet.

Die privaten (Liebes-)Bindungen waren die wichtigsten Inspirationsquellen der Künstlerin. Sie hielt sie durch ihre Bilder am Leben und verdichtete sie in ihrem Werk zu einer Vorform der „Individuellen Mythologien“, denen der Kurator Harald Szeemann 1972 seine documenta 5 widmete.

Wieder bot Berlin dann das Podium für ihre zweite Karriere. 1969, 30 Jahre nach ihrem ersten Opernerfolg, hatte sie ihre erste Einzelausstellung im Haus am Lützowplatz. Dem Kritiker der „Welt“ fiel damals ihre „ausdrucksstarke Melancholie“ auf: „Autobiographisches geht bruchlos in Mythisches über“

Zum Sinnbild dieses Ineinsfalls von Leben und Kunst wurde ihr mit Kunst und Erinnerungsstücken vollgestopftes Istanbuler Schlafzimmer, ihr ganz persönliches Kunstuniversum. Die Kuratorin Rosa Martinez verfrachtete es 2005 zur Gänze auf ihre „Always a little further“-Biennale nach Venedig.

Aktuell ist Berksoys Werk nicht nur wegen des Beispiels einer selbstbestimmten, keinen Exzess scheuenden Künstlerin, deren Leben und Werk sich aus den, von den derzeitigen Machthabern am Bosporus verdrängten, emanzipatorischen Ursprüngen der Türkischen Republik speist, die im vergangenen Jahr ihr 100. Jubiläum feierte.

Ihr Oeuvre ist auch verblüffend anschlussfähig an das Dramatische, Performative, Queere und Transgressive der Gegenwartskunst heute und deren Suche nach genresprengender Interdisziplinarität.

Es ist genau diese Faszination, die Kutluğ Atamans Film „semiha b. unplugged“ treibt. In dem siebeneinhalbstündigen Video von 1997 lässt der schwule Regisseur die grell geschminkte, extravagant gekleidete, lasziv sich windende Berksoy, damals 87 Jahre alt, in ihrem Schlafzimmer ihr Leben re-enacten. „Alles, was ich mache ist Kunst“, hatte sie Hans Ulrich Obrist in sein Interview diktiert.

Zwei Jahre später kehrte die 89-jährige für Robert Wilsons Inszenierung „The Days Before Death, Destruction and Detroit III“ im New Yorker Lincoln Center in einem grotesken Zirkuskleid auf die Bühne zurück und sang mit schnarrender Stimme Isoldes „Liebestod“. Fünf Jahre später stirbt sie in Istanbul nach einer Herzoperation.

Wenn Regisseur Ataman erklärt, dass ihn „die Präsentation selbst interessiert und nicht das, was sie präsentiert“, meint er das unkontrollierbare Entstehen des Gesamtkunstwerks eines revolutionären Geistes. Er balancierte auf der Schwelle zwischen Leben und Tod.

 Semiha Berksoy: Singing In Full Color. Hamburger Bahnhof. Noch bis zum 11. Mai 2025. Katalog, Silvana Editoriale, 20 Euro

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